Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
Vom Netzwerk:
schaute zum beleuchteten Kraftwerk hinüber, als wollte er mit der Angelegenheit nichts zu tun haben.
    Nun kam er zurück. »Wir haben sie alle gewarnt, allein im Meer zu schwimmen«, sagte er. »Aber sie kümmerte sich nicht darum. Ich habe im Grunde auch nicht geglaubt, daß es ihr mal gefährlich werden könnte. So haben wohl all die Mordopfer gedacht, bis es dann zu spät war. ›Mir kann doch so was nicht zustoßen!‹ Aber davor ist wohl niemand sicher. Trotzdem finde ich es sonderbar, geradezu unfaßbar. Das zweite Mordopfer in Larksoken. Wo liegt sie?«
    »Am Rand des Kiefernwaldes, von wo aus sie, wie ich annehme, ins Meer zum Schwimmen ging.«
    Als Alex Mair eine Bewegung in diese Richtung machte, fügte Dalgliesh hinzu: »Für Sie gibt es da nichts zu tun. Ich gehe zum Tatort zurück und warte auf die Polizei.«
    »Ich weiß, daß ich nichts tun kann. Ich möchte sie nur sehen.«
    »Lieber nicht. Je weniger Menschen den Tatort betreten, desto besser.«
    Mair drehte sich ruckartig zu ihm um. »Können Sie denn nur wie ein Polizist denken, Dalgliesh? Ich möchte sie ja nur noch einmal sehen.«
    Es ist ja nicht mein Fall, dachte Dalgliesh, und außerdem kann ich ihn nicht mit Gewalt davon abhalten. Aber er konnte zumindest dafür sorgen, daß der direkte Weg zu der Leiche unberührt blieb. Wortlos schritt er voran, und Alex Mair folgte ihm. Warum diese Hartnäckigkeit, noch einmal die Tote sehen zu wollen, überlegte er. Wollte er sich selbst davon überzeugen, daß sie tatsächlich tot war? Steckte dahinter der Drang des Wissenschaftlers, sich selbst ein Bild machen zu müssen? Versuchte er so, sich von einer grausigen Vorstellung zu befreien, die sich in der Phantasie noch bedrückender auswirken würde als in der Realität? Oder trieben ihn mehr seine Gefühle? Wollte er von der Toten Abschied nehmen, bevor die Polizei mit all ihrem Rüstzeug für eine Ermittlung eintraf und sich in die intimen Geheimnisse mischte, die die beiden einst geteilt hatten? Alex Mair schwieg, während Dalgliesh ihn in südlicher Richtung, vorbei am Weg, zum Strand führte. Wortlos folgte er ihm in den Baumschatten und zwängte sich zwischen den Kiefernstämmen hindurch. Der Lichtkegel seiner Stablampe erfaßte die dürren Äste, die Dalgliesh vorhin abgebrochen hatte, die mit Sand bestreute Schicht von Kiefernnadeln, die dürren Kiefernzapfen, eine verbeulte Blechdose. Der würzige Harzgeruch schien immer stärker zu werden und erschwerte das Atmen wie in einer schwülen Hochsommernacht.
    Nach einigen Minuten traten sie aus der beklemmenden Dunkelheit auf den hellen Strand hinaus und sahen vor sich das mondbeschienene Meer. Es glich einem geschwungenen Schild aus getriebenem Silber. Einen Augenblick lang blieben sie nebeneinander stehen und atmeten tief durch. In dem trockenen Sand oberhalb des Kiesstreifens waren Dalglieshs Fußabdrücke deutlich zu sehen. Sie folgten ihnen, bis sie vor der Toten standen.
    Es ist mir zuwider, dachte Dalgliesh, daß ich mit ihm hierhergekommen bin, daß wir beide sie in ihrer Nacktheit sehen, ohne daß sie sich wehren kann. Das fahle, kalte Licht schien sein Wahrnehmungsvermögen auf ungewohnte Weise zu steigern. Die bleichen Gliedmaßen, das dunkle Haarbüschel, das grellfarbene rot-blaue Handtuch, die Strandhaferhorste, all das hatte die eindimensionale Einprägsamkeit eines Farbdrucks. Die notwendige Wache bei der Leiche bis zur Ankunft der Polizei hätte ihm nichts ausgemacht; er war ja die stille Gesellschaft von Toten gewohnt. Aber mit Alex Mair an seiner Seite kam er sich wie ein Voyeur vor. Eher aus Widerwillen als aus Feinfühligkeit entfernte er sich und schaute zu den dunklen Kiefern hinüber, wobei er freilich jede Bewegung, jeden Atemzug der hochgewachsenen Gestalt wahrnahm, die mit der gespannten Aufmerksamkeit eines Chirurgen auf die Leiche hinabblickte.
    »Das Medaillon, das sie um den Hals trägt, habe ich ihr am 29. August zum Geburtstag geschenkt«, sagte Alex Mair.
    »Es hat die passende Größe für ihren Yale-Hausschlüssel. Einer der Facharbeiter in der Werkstatt von Larksoken hat es nach meinen Angaben angefertigt. Es ist schon bewundernswert, zu welchen Leistungen diese Leute fähig sind.«
    Dalgliesh wußte, daß ein Schock sonderbare Gedankengänge und Äußerungen auslösen konnte, und erwiderte nichts darauf.
    »Kann man sie denn nicht abdecken, Dalgliesh?« fragte Alex Mair plötzlich mit erregter Stimme.
    Womit denn, dachte Dalgliesh. Meint er denn, daß ich das

Weitere Kostenlose Bücher