Vorsatz und Begierde (German Edition)
schaffen gemacht und ein Bild von Hilary Robarts durch das Fenster geworfen. In derselben Nacht ein weiterer Mord des Whistlers und dazu noch eine Sachbeschädigung – schon ein eigenartiger Zufall.«
Rikkards schaute ihn forschend an. »Mag sein. Aber der Whistler kann es nicht gewesen sein. Der Whistler ist nämlich tot. Gegen 18 Uhr hat er in einem Hotel in Easthaven Selbstmord verübt. Ich habe versucht, Sie zu benachrichtigen.«
Rikkards kniete sich neben die Tote und berührte ihr Gesicht. Dann hob er den Kopf der Toten an und ließ ihn fallen. »Noch keine Leichenstarre. Hat nicht mal eingesetzt. Wird aber bald eintreten. Als der Whistler sich umbrachte, hatte er genug auf dem Kerbholz, aber das da, Mr. Dalgliesh« – er wies mit dem Zeigefinger auf die Tote –, »das war jemand anderes.«
22
Rikkards streifte seine Ermittlungshandschuhe über. Die ungeschlachten Finger unter der dünnen Latexhaut wirkten befremdend, wie das Euter eines monströsen Tieres. Er kniete sich nieder und nestelte an dem Medaillon. Als der Deckel aufsprang, sah Dalgliesh, daß sich der Yale-Schlüssel darin befand. Rikkards nahm ihn heraus. »Sie hatten recht, Mr. Dalgliesh«, sagte er. »Dann können wir uns jetzt die Sachbeschädigung ansehen.«
Dalgliesh folgte Rikkards den Weg hinauf bis zur Haustür von Hilary Robarts’ Cottage. Rikkards schloß sie auf. Sie traten in eine Diele, die zu einer Treppe führte. Auf beiden Seiten befanden sich Türen. Rikkards öffnete die linke Tür und trat in das Wohnzimmer. Dalgliesh folgte ihm. Es war ein großer Raum, der die ganze Länge des Cottage einnahm und an beiden Breitseiten Fenster hatte. Der offene Kamin befand sich gegenüber der Tür. Das Porträt lag etwa einen Meter vom Fenster entfernt und war von Glassplittern umgeben. Beide blieben unweit der Tür stehen und sahen sich um.
»Das Bild hat Ryan Blaney gemalt. Er wohnt in Scudder’s Cottage im Süden der Landzunge. Ich habe es am Nachmittag nach meiner Ankunft gesehen.«
»Eine merkwürdige Art, es einem zuzuschicken«, meinte Rikkards. »Das Bild war bestimmt ein Auftrag von ihr, oder?«
»Kann ich mir nicht denken. Es wurde nach seinen Vorstellungen gemalt, nicht nach ihren.«
Er wollte noch hinzufügen, daß Ryan Blaney sicherlich der letzte wäre, der sein Werk verunstalten würde. Doch dann kam ihm der Gedanke, daß es ja gar nicht so sehr gelitten hatte. Die beiden Schnitte in Form eines L ließen sich problemlos ausbessern. Außerdem war die Beschädigung mit der gleichen Präzision und Berechnung durchgeführt worden wie die Schnitte auf Hilary Robarts’ Stirn. Das Bild war nicht in einem Wutanfall ramponiert worden.
Es schien Rikkards vorläufig nicht weiter zu interessieren.
»Hier hat sie also gewohnt«, sagte er. »Sie muß die Einsamkeit geliebt haben. Das heißt, wenn sie überhaupt allein gelebt hat.«
»Soviel ich weiß, hat sie allein gelebt«, erwiderte Dalgliesh. Es ist ein bedrückender Raum, dachte er, wenngleich er auch durchaus zweckmäßig eingerichtet war. Er enthielt das notwendige Mobiliar, aber die einzelnen Möbel sahen aus, als stammten sie aus zweiter Hand, anstatt von der Bewohnerin bewußt für diese Räume erworben worden zu sein. Neben dem offenen Kamin mit Gasfeuerung standen zwei mit braunem Kunstleder bezogene Lehnsessel. Die Mitte des Raumes nahmen ein ovaler Eßtisch und vier unterschiedliche Stühle ein. Beiderseits des Vorderfensters waren Bücherregale eingebaut, welche Fachbücher und Romane füllten. Auf dem unteren und dem oberen Bord standen Karteikästen. Nur die längste Wand gegenüber der Tür deutete darauf hin, daß sich hier jemand hatte wohnlich einrichten wollen. Hilary Robarts mußte Aquarelle geliebt haben; sie hingen dort so dicht wie in einer Bildergalerie. Einige vermeinte Dalgliesh zu kennen. Er wäre gern hinübergegangen, um sie sich näher anzusehen. Aber es war denkbar, daß sich jemand vor ihnen, von Hilary Robarts einmal abgesehen, in dem Raum aufgehalten hatte. Deswegen mußte man auf möglicherweise vorhandene Spuren Rücksicht nehmen.
Rikkards schloß die Tür und öffnete die gegenüberliegende auf der rechten Seite des Korridors. Sie führte in eine zweckmäßig eingerichtete Küche, die allerdings nicht so heimelig war wie die in Martyr’s Cottage.
In der Mitte stand ein kleiner Holztisch mit einer Resopalplatte. Die vier gleichen Stühle waren darunter geschoben. Auf dem Tisch stand eine geöffnete Weinflasche. Der Korken und
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