Wanderer, Kommst Du Nach Spa ... Großdruck
muß tatsächlich zurück, es ist siebzehneinhalb nach.
»Eine Uhr!« rufe ich. »Eine Uhr für einen Groschen. Eine ehrliche Uhr, nicht geklaut, nichts, eine Uhr von meinem Vater.« Die Leute halten mich für verrückt oder einen Verbrecher.
Keine Sau will die Uhr. Vielleicht holen sie die Polizei. Ich muß zu den Kumpels. Die Kumpels wenigstens werden mir helfen. Die Kumpels stehen unten. Es ist achtzehn nach, ich werde verrückt. Soll ich ausgerechnet heute den Zug versäumen, heute, wo sie kommen wird? »Ankomme dreizehnuhrzwanzig dort.«
»Kumpel«, sage ich zum nächsten, »gib mir einen Groschen für die Uhr, aber schnell, schnell«, sage ich.
Auch er stockt, sogar der Kumpel stockt. »Kumpel«, sage ich, »ich habe noch eine Minute Zeit, verstehst du?«
Er versteht, er versteht natürlich falsch, aber er versteht wenigstens falsch, wenigstens etwas, wenn man falsch verstanden wird. Es ist doch wenigstens Verstehen. Die anderen verstehen gar nichts.
Er gibt mir eine Mark, er ist großzügig. »Kumpel«, sage ich, »ich brauche einen Groschen, verstehst du, keine Mark, verstehst du?«
Er versteht wieder falsch, aber es ist so schön, wenigstens falsch verstanden zu werden; wenn ich lebend aus der Schlacht herauskomme, werde ich dich umarmen, Kumpel.
Er schenkt mir noch einen Groschen dazu, so sind die Kumpels, sie
geben noch etwas zu und verstehen wenigstens falsch.
Es gelingt mir, neunzehneinhalb Minuten nach eins die Treppe heraufzurasen. Ich muß trotz allem wachsam sein, ich muß wahnsinnig aufpassen. Hinten kommt der Zug, schwarz und schnaubend vor dem grauen Horizont der Stadt. Mein Herz schweigt bei seinem Anblick, aber ich bin pünktlich, das ist es. Es ist mir gelungen, trotz allem pünktlich zu sein.
Ich halte mich ganz fern von dem Winklöffelfritzen; er steht mitten unter den Leuten, und plötzlich hat er mich erspäht, er schreit, er hat Angst, und er winkt seiner Clique, die in seinem Häuschen verborgen ist, winkt, sie sollen mich schnappen. Sie stürzen aus dem Häuschen, sie werden mich schnappen, aber ich lache sie aus, ich lache sie aus, denn der Zug ist eingelaufen, und noch ehe sie mich erreicht haben, liegt sie an meiner Brust, sie, und ich besitze nichts mehr als sie und eine Bahnsteigkarte, sie und eine gelochte Bahnsteigkarte …
Mein trauriges Gesicht
Als ich am Hafen stand, um den Möwen zuzusehen, fiel mein trauriges Gesicht einem Polizisten auf, der in diesem Viertel die Runde zu gehen hatte. Ich war ganz versunken in den Anblick der schwebenden Vögel, die vergebens aufschossen und niederstürzten, nach etwas Eßbarem zu suchen: der Hafen war verödet, grünlich das Wasser, dick von schmutzigem Öl, und in seiner krustigen Haut schwamm allerlei weggeworfener Krempel; kein Schiff war zu sehen, die Krane verrostet, Lagerhallen verfallen; nicht einmal Ratten schienen die schwarzen Trümmer am Kai zu bevölkern, still war es. Viele Jahre schon war jede Verbindung nach außen abgeschnitten.
Ich hatte eine bestimmte Möwe ins Auge gefaßt, deren Flüge ich beobachtete. Ängstlich wie eine Schwalbe, die das Unwetter ahnt, schwebte sie meist nahe der Oberfläche des Wassers, manchmal nur wagte sie kreischend den Sturz nach oben, um ihre Bahn mit der der Genossen zu vereinen. Hätte ich einen Wunsch aussprechen können, so wäre mir ein Brot das liebste gewesen, es den Möwen zu verfüttern, Brocken zu brechen und den planlosen Flügen einen weißen Punkt zu bestimmen, ein Ziel zu setzen, auf das sie zufliegen würden; dieses kreischende Geschwebe wirrer Bahnen zu straffen durch den Wurf eines Brotstückes, hineinpackend in sie wie in eine Zahl von Schnüren, die man rafft. Aber auch ich war hungrig wie sie, auch müde, doch glücklich trotz meiner Trauer, denn es war schön, dort zu stehen, die Hände in den Taschen, den Möwen zuzusehen und Trauer zu trinken.
Plötzlich aber legte sich eine amtliche Hand auf meine Schulter, und eine Stimme sagte: »Kommen Sie mit!« Dabei versuchte die Hand, mich an der Schulter zu zerren und herumzureißen.
Ich blieb stehen, schüttelte sie ab und sagte ruhig: »Sie sind
verrückt.«
»Kamerad«, sagte der immer noch Unsichtbare zu mir, »ich warne Sie.«
»Mein Herr«, gab ich zurück.
»Es gibt keine Herren«, rief er zornig. »Wir sind alle Kameraden.« Und nun trat er neben mich, blickte mich von der Seite an, und "ich war gezwungen, meinen glücklich schweifenden Blick zurückzuholen
und in seine braven Augen zu versenken: Er
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