Das Vermächtnis
Auf einem Ast des Großen Ga’Hoole-Baumes saßen drei Eulen.
Die Elfenkäuzin, der Bartkauz und der Höhlenkauz waren als die „Viererbande“ bekannt. Doch der Vierte im Bunde, der Schleiereulerich Soren, fehlte.
Er war ans Lager seines alten Lehrers und Mentors Ezylryb gerufen worden. Denn der alte Kreischeulerich lag im Sterben.
Ein eisiger Winterwind fegte durch die Baumkrone. Die zierliche Gylfie schmiegte sich an den stattlichen Morgengrau, und der Bartkauz legte ihr schützend den Flügel um die Schulter. Auch Digger rückte näher an seine beiden Freunde heran.
„Ich fühle alles, was Soren gerade fühlt“, sagte Gylfie. „Als wären unsere Mägen eins.“
Morgengrau und Digger nickten. „Mir geht es genauso“, sagte Digger leise. Alle drei spürten Sorens Kummer in ihrem eigenen Muskelmagen, dort, wo bei Eulen die stärksten Gefühle wohnen. „Es klingt vielleicht komisch“, sprach Digger weiter, „aber mir ist, als würde ich ein zweites Mal zur Waise. Wie muss Soren da erst zumute sein! Schließlich ist er Ezylrybs Ziehsohn.“
„Ich weiß nicht, wie ich eine Waise geworden bin“, sagte Morgengrau. „Ich kann mich ja nicht einmal mehr an meine Eltern erinnern. Wahrscheinlich war ich schon beim Schlüpfen auf mich allein gestellt.“
Wenn er jetzt wieder von dem harten Leben als Waise anfängt und damit prahlt, dass er sich alles selbst beigebracht hat, kommt mir das Gewölle hoch!, dachte Gylfie.
Doch Morgengrau fuhr fort: „Ich kann mir trotzdem vorstellen, wie es sein muss, einen Vater zu haben. Und wie schwer es sein muss, ihn zu verlieren. Armer Soren!“
Drinnen in Ezylrybs Höhle ahnte Soren zwar die Anteilnahme seiner Freunde, aber sein Schmerz war so überwältigend, dass er kaum etwas anderes wahrnahm. Seine sonst so glänzenden Augen blickten stumpf. Sein Magen war wie gelähmt.
Die blinde Schlange Oktavia hatte sich in einem Winkel zusammengeringelt und schluchzte leise. Sie war seinerzeit zusammen mit Ezylryb in den Großen Baum gekommen. Seit diesem Tag war sie nicht nur seine Nesthälterin, sondern auch seine engste Vertraute gewesen.
Soren war schon in jungen Jahren von Ezylryb als Ziehsohn angenommen worden. Der weise Alte hatte erkannt, dass der junge Eulerich besonnen war und andere Eulen führen konnte.
Coryn jedoch, der junge König von Ga’Hoole, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Er fühlte sich fehl am Platz. Weil er ganz neu im Baum war, kannte er Ezylryb noch nicht so gut. Er wusste nicht recht, warum der Alte ihn hatte rufen lassen.
Jetzt hob der Kreischeulerich den Fuß, an dem er nur noch drei Zehen hatte, und winkte die beiden Schleiereulenmännchen zu sich heran.
„Kommt näher, Jungs, kommt näher!“, krächzte er heiser.
Bei dieser freundschaftlichen Anrede fühlte Coryn sich gleich viel wohler. Der Alte hatte ihn noch kein einziges Mal „Majestät“ oder dergleichen genannt. Soren und Coryn beugten sich über den Sterbenden.
„Hört mir gut zu. Ich habe euch etwas Wichtiges zu sagen!“, verkündete Ezylryb.
„Ich höre zu, Ezylryb“, erwiderte Coryn.
„Aye, aye, Käpt’n“, sagte Soren mit erstickter Stimme. So wurde Ezylryb von den Mitgliedern seiner Wetterbrigade angeredet. Ezylryb hatte ihnen beigebracht, wie man sicher durch einen Sturm flog, wie man über die Rappelschanze sauste und sich vom Überlaufwall in die Rinne gleiten ließ. Wie herrlich waren unsere Wetterflüge!, dachte Soren . Kein Sturm und kein Gewitter konnten uns schrecken. Und die derben Spottlieder, die wir immer gesungen haben! Ist es das, was mir am meisten fehlen wird? Oder eher unsere Gespräche, die oft weit in den Tag hinein dauerten? Oder unsere Treffen in der Bibliothek, wo Ezylryb mir Bücher empfohlen hat? Ich habe so viel von ihm gelernt – so unendlich viel!
Der Alte versuchte sich aufzusetzen. „Nicht, Ezylryb“, sagte Soren besorgt. „Du musst dich ausruhen.“
„Lass mich nur. Ich finde ohnehin noch keine Ruhe. Wir Wächter haben die Eulen von Sankt Ägolius besiegt und ihr Tupfenlager zerstört. Auch das Heer der Reinen haben wir zerschlagen. Doch was mag die Zukunft bringen?“ Ezylryb holte rasselnd Luft. „Die Glut von Hoole ist in den Großen Baum zurückgekehrt.“ Er war kaum noch zu verstehen. Soren und Coryn beugten sich tiefer über seinen Schnabel. „Das ist ein großes Geschenk – und zugleich eine große Gefahr. Doch die schlimmste Gefahr ist Unwissenheit. Dem Unwissenden helfen auch die besten
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