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Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen

Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen

Titel: Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Hoerster
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gelangt sind, weil Muslime in den vergangen Jahren weltweit mehr Aufsehen als Katholikenerregt haben. So gesehen,
wissen
die Betreffenden in Wirklichkeit nicht, dass Goethe älter geworden ist als Schiller bzw. dass es derzeit in der Welt mehr Muslime als Katholiken gibt.
    Die negative Antwort auf die zweite der obigen Fragen ist weniger selbstverständlich, jedoch wie folgt sehr gut begründbar. Was immer die näheren Voraussetzungen sein mögen, unter denen man einen Glauben als
wahr
beurteilen kann: Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann immer nur bezogen auf jene Beweismittel entschieden werden, die dem
Urteilenden zum Zeitpunkt des Urteils
verfügbar sind. Wenn ich heute ein Urteil darüber abgeben will, ob der – von wem auch immer wann auch immer vertretene – Glaube, dass Sonne und Mond sich um die Erde als Mittelpunkt bewegen, wahr oder falsch ist, muss ich notwendigerweise auf jene Beweismittel Bezug nehmen, die
mir heute
verfügbar sind.
    Und was immer die näheren Voraussetzungen sein mögen, unter denen man einen Glauben als
gerechtfertigt
beurteilen kann: Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann immer nur unter Bezug auf jene Beweismittel entschieden werden, die dem
Glaubenden zum Zeitpunkt des Glaubens
verfügbar sind. Um heute ein Urteil darüber abzugeben, ob der Glaube des griechischen Astronomen Ptolemäus, dass Sonne und Mond sich um die Erde als Mittelpunkt bewegen,
gerechtfertigt
war, muss ich also auf die
Ptolemäus damals
verfügbaren Beweismittel Bezug nehmen. Um heute jedoch urteilen zu können, dass Ptolemäus, ob in seiner Annahme gerechtfertigt oder nicht, insoweit jedenfalls kein Wissen besaß, weil die Annahme nicht
wahr
ist, muss ich auf die
mir heute
verfügbaren Beweismittel Bezug nehmen.
    Das Urteil über die Wahrheit und das Urteil über die Rechtfertigung eines Glaubens können danach selbst dann auseinanderfallen, wenn Glaube und Urteil zeitgleich stattfinden, wenn dem Urteilenden und dem Glaubenden jedoch
unterschiedliche
Beweismittel für ihre Überzeugungen zur Verfügung stehen. So war der amerikanische Normalbürger zu Beginn des Irakkrieges auf der Basis der ihm zugänglichen Informationen vermutlich gerechtfertigt zu glauben, dass dieser Krieg der Verteidigung der USA gegen einen bevorstehenden Angriff diene, obschon die Verantwortlichen für den Krieg und ihre Gewährsleute schon damals durchaus wussten, dass dies nicht der Fall war.
    Manche Philosophen meinen, dass es im Grunde so etwas wie Wissen gar nicht geben kann. Denn Wissen geht, wie wir sahen, ja Hand in Hand mit einer festen, sicheren Überzeugung: Wenn ich weiß, dass ich Eigentümer eines Hauses bin, kann ich nicht gleichzeitig auch daran zweifeln, dass dies zutrifft. Kann eine solche Sicherheit oder Zweifelsfreiheit aber, so fragen die betreffenden Philosophen, überhaupt jemals als legitim gelten? Sind nicht stets Umstände denkbar, die jede noch so gut begründete Annahme im Nachhinein als falsch erweisen können? Kann ich mich denn nicht täuschen, wenn ich glaube, dass ich Eigentümer eines Hauses bin oder dass vor mir jetzt ein Schreibtisch steht? Und könnte sich eines Tages nicht sogar herausstellen, dass unser derzeitiges astronomisches Weltbild gar nicht haltbar ist – ebenso wie sich vor einigen Jahrhunderten herausgestellt hat, dass das ptolemäische Weltbild nicht haltbar ist? Kann deshalb eigentlich nicht jede Annahme, wie gut begründet sie auch sein mag, nie mehrals eine – mehr oder weniger glaubwürdige –
Vermutung
sein?
    Diese Sichtweise hat bei realistischer Betrachtung wenig für sich. Richtig ist zwar, dass stets die logische Möglichkeit besteht, dass eine Annahme falsch ist. Und richtig ist auch, dass es Annahmen gibt, die jemand zwar verbunden mit einer sicheren Überzeugung sowie mit einem berechtigten Wissensanspruch vertritt, die sich im Nachhinein jedoch als falsch erweisen. Dies ist in der Vergangenheit vorgekommen, und dies wird vermutlich auch in der Zukunft vorkommen.
    Aus alledem folgt aber nicht notwendig, dass wir nicht jene Annahmen, an denen wir auf dem Stand unserer gegenwärtigen Erkenntnismöglichkeiten und Beweismittel keinerlei Zweifel zu haben brauchen, durchaus als «sicheres Wissen» – verstanden im Sinne von «für uns sicheres Wissen» – bezeichnen können. Sicheres Wissen ist insofern etwas anderes als
unfehlbares
Wissen. Ich kann doch durchaus zugeben, dass es denkbar oder logisch möglich ist, dass vor mir jetzt
kein
Schreibtisch steht.

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