Weil ich Layken liebe
verstanden.
Das Leben wollte mir nicht sagen, dass mein kleiner Bruder derjenige ist, der als Einziger für mich an erster Stelle stehen sollte.
Es wollte mir nicht diktieren, dass meine Ausbildung und mein Beruf als Einziges an zweiter Stelle stehen sollten.
Und es wollte mir definitiv nicht vorschreiben, dass das
Mädchen, das ich kennengelernt habe,
dieses unglaublich schöne und starke Mädchen,
dem ich so rettungslos verfallen bin,
erst an dritter Stelle kommen darf.
Auf die Warteliste gesetzt,
für später,
wenn dann alles passt.
Ich hab jetzt verstanden, was das Leben mir zu sagen versucht hat.
Nämlich dass es flexibel ist. Dass da immer noch mehr Platz ist, als man denkt, um all die Dinge unterzubringen, die zählen.
Und deswegen setze ich das Mädchen,
das schöne Mädchen, dem ich verfallen bin,
auf meiner Prioritätenliste
ab heute
nach ganz oben.
Will legt das Mikrofon auf die Bühne, springt herunter und kommt auf mich zu. Ich habe so verzweifelt versucht, loszulassen und den Bann zu brechen, mein Herz auszuschalten und dem Kopf das Feld zu überlassen. Aber jetzt ist klar, dass es nicht geklappt hat. Es hat kein bisschen geklappt.
Er nimmt mein Gesicht in die Hände und wischt mit den Daumen die Tränen weg, die mir über die Wangen laufen. »Ich liebe dich, Lake.« Lächelnd drückt er seine Stirn an meine. »Ich will, dass du an erster Stelle stehst.«
Alles im Raum rückt in den Hintergrund und das einzige Geräusch, das ich höre, ist das Poltern meines Schutzwalls, der in sich zusammenbricht.
»Ich liebe dich auch, Will. Und wie ich dich liebe!«
Er legt seine Lippen auf meine und ich schlinge die Arme um seinen Hals und küsse ihn. Natürlich küsse ich ihn.
Ein Jahr später …
My parents taught me to learn
when I miss
Just do your best
Just do your best.
– The Avett Brothers, »When I drink«
Am Vormittag des 25. Dezember gehe ich nach der Bescherung durchs Wohnzimmer und steige über die Berge von Spielsachen, die herumliegen, während ich zerknülltes Geschenkpapier und Schleifen einsammle und in einen Müllsack stopfe.
»Seid ihr glücklich mit den Geschenken, die Santa euch gebracht hat?«, frage ich.
»Ja!«, rufen Kel und Caulder im Chor. Ich bücke mich nach dem letzten Papierfetzen, verknote den Müllsack und gehe damit nach draußen.
Als ich aus der Tür trete, kommt Will gegenüber gerade wieder aus dem Haus, nachdem er ein paar Sachen zu sich gebracht hat, und läuft über die Straße. »Lass mich das machen,Süße.« Er nimmt mir den Sack aus den Händen und bringt ihn zum Mülleimer. Als er zurückkommt, umarmt er mich und vergräbt sein Gesicht an meinem Hals.
»Frohe Weihnachten noch mal«, sagt er.
»Frohe Weihnachten«, erwidere ich.
Es ist das zweite Weihnachten, das wir zusammen feiern, und das erste ohne Mom. Sie ist im September gestorben – fast auf den Tag genau ein Jahr nach unserem Umzug nach Michigan. Die Zeit danach war hart. Unfassbar hart.
Wenn ein Mensch stirbt, der einem sehr nahesteht, erinnert für sehr lange Zeit alles qualvoll an die Lücke, die sein Tod gerissen hat. Erst wenn man die fünfte Phase der Trauer erreicht, beginnen sich die Erinnerungen ganz allmählich von etwas Schmerzhaftem in etwas Wehmütiges und schließlich in etwas Schönes zu verwandeln. Nämlich dann, wenn man nicht mehr immerzu daran denkt, dass dieser Mensch jetzt nicht mehr da ist, sondern sich an all das Gute zu erinnern beginnt, das sein Leben ausgemacht hat.
Will an meiner Seite zu haben, hat mir geholfen, die Monate der Trauer zu überstehen. An dem Tag, an dem er seine Examensurkunde bekommen hat, hat er entschieden, die Stelle an der Junior Highschool doch nicht anzutreten, sondern stattdessen noch ein Jahr zu studieren und zusätzlich den Master in Erziehungswissenschaften zu machen. Er hat einen weiteren Studienkredit aufgenommen, um sich und Caulder während dieser Zeit über Wasser zu halten.
Will greift nach meiner Hand und wir gehen ins Haus zurück. Es ist wirklich unglaublich, wie viele Spielsachen sich auf dem Boden türmen.
»Bin gleich zurück. Letzte Ladung«, verkündet Will, als er sich nach einem weiteren Stapel von Geschenken bückt und sich wieder zur Tür wendet. Das ist jetzt das dritte Mal, dass er über die Straße geht, um Caulders Weihnachtsbeute nach Hause zu schleppen.
»Heißt das etwa, dass der ganze Rest dir gehört, Kel?«, sage ich und sehe mich fassungslos im Raum um. »Bitte fangt mal an, die Sachen
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