Weiß wie der Tod
mehr feststellen. Die Folge waren ein massiver Blutverlust und, dadurch bedingt, ein Schock, also der akute Zusammenbruch des Kreislaufs, der schließlich zum Tod führte.
Was musste das für ein Mensch sein, der stundenlang auf einen wehrlosen Körper eindrosch und ihn mit Tritten und Schlägen so lange traktierte, bis er endlich starb?
Hätte er es nicht einfacher haben können? Einen Stich, einen Schuss, den Strick, Gift oder sonst eine andere, weitaus weniger quälende Tötungsart hätte er wählen können. Aber er hatte sich für das Zu-Tode-Prügeln entschieden. Das musste eine Ursache haben, die in der Motivation des Täters begründet lag.
So auch die Wahl des Werkzeugs. Dragan tippte auf einen biegsamen Rohrstock, rund einen Zentimeter breit, vermutlich aus Rattan.
Levy startete den Browser. Unter den Tausenden Google-Treffern fischte er diese Website heraus:
Dickes Rattan, las er, eignet sich zum Bau von Möbelstücken und als Gehstock. Es ist bei speziellen Möbelbauern oder über das Internet problemlos zu beziehen. Dünne Rattanstäbe dagegen sind flexibel und eignen sich als Züchtigungsinstrument. Der Rohrstock aus Rattan ist dafür bekannt, dass Hiebe sehr schmerzhaft sind und charakteristische rote Striemen hinterlassen.
Der Rohrstock wird in Süd- und Südostasien noch immer in der Kindererziehung, aber auch als Züchtigungsmittel bei Erwachsenen verwendet. In Europa gibt es Körperstrafen mit dem Rohrstock fast nur noch als BDSM-Praktik, vor allem in Großbritannien.
BDSM, was war das noch einmal?
Der Begriff setzte sich aus den Anfangsbuchstaben der englischen Begriffe Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism zusammen. Er beschrieb sexuelle Verhaltensweisen, die mit Dominanz und Unterwerfung, spielerischer Bestrafung sowie Lustschmerz oder Fesselungsspielen einhergingen.
Alle Varianten des BDSM hatten gemeinsam, dass sich die Beteiligten freiwillig in ein Machtgefälle begaben. Der devote Partner opferte seine Autonomie und übertrug sie dem dominanten Partner.
Also doch Freiwilligkeit?, fragte sich Levy. Ein Rollenspiel, das aus dem Ruder gelaufen war? Das Opfer hatte anfänglich zugestimmt und war letztlich zu schwach, um sich zu wehren? Möglich.
Dann hätte der dominante Part die Regeln gebrochen, seine Macht ausgenutzt, und die Lust hätte sich in Raserei verkehrt.
Welches Gefühl war in ihm so stark, dass er die Grenze des Vertrauens gebrochen hatte?
Grenzenloser Hass?
Welches Bedürfnis hatte er damit befriedigt?
Genugtuung, Rache, einen Ausgleich schaffen?
Wofür?
Für erlittenes Leid, das ihm das Opfer oder dessen Stellvertreter zugefügt hatte? Oder hatte das Opfer ein Gesetz gebrochen, und der Täter sah sich in der Rolle des Richters und Bestrafers?
Wie lautete dieses Gesetz, oder was hatte das Opfer getan, das den Täter schuldig werden ließ?
Gesetze beziehungsweise Grenzübertritte waren individuell, gemäß den Wertvorstellungen des Täters. Das konnte alles Mögliche sein – die Verletzung eines Ehrenkodexes oder der Verstoß gegen eine Regel, die für den Täter essenziell war.
Beiden war gemeinsam, dass sich Opfer und Täter gut gekannt haben mussten – zumindest wusste der Täter über eine vermeintliche Verfehlung des Opfers Bescheid. Und diese war so groß, dass es nur eine Antwort darauf geben konnte – die Todesstrafe.
Hätte das Opfer davon gewusst oder hätte es den Täter in seiner Rolle als Bestrafer erkannt, dann hätte es sich wohl nicht freiwillig in die Aufgabe seiner Autonomie begeben.
Daraus folgerte Levy, dass sich der Täter entweder getarnt hatte oder dass sich das Opfer einer Gesetzesübertretung nicht bewusst gewesen war.
Levy bemühte abermals Google. In welchen Ländern wurde der Rohrstock noch heute angewendet?
Süd- beziehungsweise Südostasien und in Großbritannien. In Ersteren wurde er aus Gründen der Erziehung oder der Bestrafung eingesetzt, in Letzterem im Zuge sexueller Vorlieben.
Das öffnete ein weites Feld von möglichen Verdächtigen. In Hamburg lebten rund 250000 Ausländer. Davon kamen einige Zehntausend aus dem asiatischen Bereich. Diese Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht zu stellen war abstrus, sagte sich Levy, allerdings auch nicht ausgeschlossen. Der Täter hatte ja bewusst den Rohrstock als Tatwaffe gewählt. Er musste folglich eine Beziehung dazu haben. Nun, genauso wie der alte Lehrer Lämpel, der den Stock früher zur Bestrafung aufsässiger Schüler benutzt hatte, oder der
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