Wenn Du Luegst
Mutter langsam zu Tode geprügelt wurde. Sie hatte in ihrem kurzen Leben schon mehr Gewalt gesehen als ich in meinem. Aber wann hat man das Recht, sauer zu werden? Wie unausstehlich muss ein Kind sein, bevor man sich wünschen darf, es würde auf einem anderen Planeten leben?
Ich sagte nichts mehr, sondern ging hinein, und Lily folgte mir. Als ich mich umdrehte, hielt sie eine Zigarette in der Hand und fummelte in ihrer Tasche nach einem Feuerzeug.
»Wow, Lily.«
»Was?«
»Wie alt bist du, vierzehn?«
»Fast«, sagte sie schulterzuckend. »Und?«
»Also darfst du nicht rauchen. Es ist noch nicht mal legal, sie zu kaufen.«
»Du bist nicht meine Mutter.«
»Betrachte mich als deine Betreuerin im Ferienlager«, erwiderte ich. »Es gibt noch immer Regeln.«
»Es geht dich einen Scheiß an, was ich tue.«
»Komm schon, Mädchen. Es ist mein Haus.«
»Und du willst mich davon abhalten - du und wessen Armee?«
Ich ließ mich langsam auf einen Stuhl sinken und schloss die Augen. »Warum willst du rauchen?« Ich fragte das nur, um sie zum Reden zu bringen.
Sie zögerte. »Weshalb interessiert dich das? Ich mag es einfach.«
Ich hätte schon viel früher innehalten und mir die Stimme ansehen müssen, aber ich war zu abgelenkt gewesen. Ich wusste durch den Anruf, dass sie ein pulsierendes Orange war, hatte sie jedoch kein einziges Mal genauer betrachtet, seit ich mit Lily zusammen war. Das Orange war jetzt heller und fast durchscheinend. Ich sah Sorgenlinien darin. Aber hauptsächlich erkannte ich die Art von Durchsichtigkeit, die mit Furcht einhergeht.
»Du hast Angst«, sagte ich.
»Was?«
»Du hast Angst - um deine Mutter? Davor, was er tun wird, falls er dich findet? Angst, weil du von deinen Freunden getrennt bist? Ich kenne den Grund nicht, aber du hast Angst.«
»Du weißt überhaupt nichts.«
»Ich weiß, dass du Angst hast. Ich kann es sehen .«
»Du kannst was?«
»Ich meine, ich kann erkennen, dass du Angst hast. Ich verstehe …«
»Ich habe keine Angst«, brüllte sie. »Du hast mich hier runtergeschleift, weil meine Mutter ein gottverdammter Feigling ist. Es ist nicht meine Schuld, dass sie ein verfluchter Fußabtreter ist und sich von dem Arschloch
grün und blau schlagen lässt. Tja, ich habe nicht darum gebeten, in diesem beschissenen Haus hier zu sein. Und ich werde rauchen, wann es mit passt.«
Ich war jetzt ruhiger. Ihre Stimme war hell und fleckig, was auf Weinen oder bevorstehende Tränen hindeutete. Ich öffnete die Augen. »Es tut mir leid, aber du kannst in diesem Haus nicht rauchen - ich kann weder den Geruch noch die gelben Flecken an den Wänden ertragen. Und auch nicht in meiner Gegenwart. Falls du bei dem Versuch, Zigaretten zu kaufen, erwischt wirst, musst du die Konsequenzen selbst tragen - ich werde dir nicht aus der Patsche helfen. Ich weiß, dass ich dich nicht daran hindern kann, es hinter meinem Rücken zu tun, und ich werde dir nicht hinterherschnüffeln. Ich habe jedoch ein paar Regeln, wenn du hier bist. Im Haus oder irgendwo in meiner Nähe wird nicht geraucht. Lass mich dir jetzt dein Zimmer zeigen, anschließend werde ich mich ums Abendessen kümmern.«
Sie verdrehte die Augen, steckte die Zigarette jedoch weg. Ich brachte sie zu ihrem Zimmer und war nicht überrascht, als sie es zu klein fand.
Dann ging sie ins Wohnzimmer und blieb wie angewurzelt stehen, als sie nicht entdeckte, wonach sie suchte.
»Wo ist der Fernseher?«
»Ich habe keinen.«
»Im ganzen Haus? Du meinst, du hast nur einen in deinem Zimmer, oder?«
»Ich habe keinen.«
»Du hast keinen Fernseher?«
»Das habe ich eben gesagt.«
»Wie kannst du erwarten, dass ich hier ohne Fernseher lebe?«
»Bitte entschuldige mich.« Ich ging in mein Zimmer und schloss die Tür.
Zum Glück war Betsy jetzt zu Hause. »Betsy, was weißt du über Dreizehnjährige?«
»Na ja, Schätzchen, ich hatte selbst zwei.«
»Nein, ich meine die Sorte Teenager, die völlig unausstehlich ist und die man am liebsten umbringen würde, während man sich gleichzeitig wie ein Idiot fühlt, weil das die völlig falsche Reaktion ist.«
»Süße, es gibt keine andere Sorte. Wo ist dir einer begegnet?«
»In meinem Wohnzimmer, vor etwa dreißig Sekunden.« Ich gab ihr eine knappe Zusammenfassung von Jena und dem Flughafen und der Heimreise.
»Ach, Jena«, sagte Betsy kummervoll. »Gott schütze dieses Kind. Kein Wunder, dass es den Boden unter den Füßen verloren hat. In Ordnung. Ich komme morgen rüber. Ich muss
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