Wenn du mich brauchst
suchen«, sagte David, der eben aus seinem Zimmer trat, streng. Er hatte sich gewaschen, rasiert und seine feinen Schabbat sachen angezogen. Er sah aus wie aus dem Ei gepellt.
»Er will mir nur eine Geige zeigen, Davy. Er hat nicht vor, den Feiertag zu entheiligen. Mann, du bist schlimmer als ein chassidischer Rabbi!«
Wir betraten das Esszimmer, wo meine Mutter, meine Urgroßmutter und mein kleiner Bruder Jonathan schon versammelt waren. Meine Mutter entzündete die beiden Schabbat kerzen,dann bedeckten wir mit unseren Händen die Augen und Esther sprach die Bracha, den Segen.
Baruch ata adonaj elohejnu melech ha’olam, ascher kidschanu bemizvotav, vezivanu lehadlik ner schel Schabbat.
Es tat gut, ihr zuzuhören, ihre Stimme klang viel fester und klarer als sonst im Alltag und sie sah schön aus. Uralt, sehr klein, kerzengerade, ein bisschen wie aus einem alten Märchen. Sie trug ihr schwarzes Schabbat kleid, eine alte Brosche und zwei schmale Silberreife am linken Handgelenk. Wenn sie sich bewegte, klirrten die Armreifen ähnlich wie Sharonis Haarglöckchen. Wenn sie den Arm streckte oder beugte und der Saum ihres Kleides einen Moment verrutschte, konnte man sechs blasse bläuliche Ziffern auf ihrem Unterarm erahnen.
Ich konnte die Zahl auswendig im Schlaf aufsagen. Sie gehörte für mich, David und Jonathan so zu Esther wie ihre meergrünen Augen, ihre schmalen Hände, ihr Duft nach Lavendel, ihre Alkoholabhängigkeit und alles andere.
Eins, vier, null, sieben, eins, vier. Es war Esthers sogenannte Häftlingsnummer aus Auschwitz. Esther Mandelbaum, 140714, weiblich.
Nach der Bracha folgte der Kiddusch, dabei segnete mein Vater den Becher Wein in seiner rechten Hand. Anschließend wuschen wir uns der Reihe nach die Hände und meine Mutter brach über den brennenden Kerzen die Challa, das Brot.
»Ima, ich habe Hunger, Hunger, Hunger«, rief Jonathan hinterher ungeduldig und kletterte auf seinen Stuhl. Es gab gefülltes Hähnchen auf Spinat mit Honigsoße, das Lieblingsessen meines Vaters.
Als Nachspeise brachte meine Mutter süße Vanille challas auf den Tisch.
Weil wir keine Musik einschalten konnten, spielte mein Vater eine Weile auf seiner Geige für uns, so wie an jedem Freitagabend, dann holte David seine Klarinette und ich meine eigene Geige und später, als Joni schon im Bett war, spielten wir alle zusammen ein Kartenspiel, das Sharoni mir zum letzten Jom Kippur geschenkt hatte. Auf den Spielkarten waren Begriffe abgebildet, Worte wie Ozean, Liebe, Regen, Sonne, Widerstand und so weiter, und die Karte ging der Reihe nach an jeden Mitspieler. Ziel des Spieles war es, zu jedem Begriff ein Lied zu finden, in dem das betreffende Wort vorkam. Zu Ozean passte My Bonny is over the ocean und zu Sonne Here comes the sun. Aber es gab natürlich massenweise Möglichkeiten und wir sangen und sangen und notierten den Punktestand und hatten alle viel Spaß. Meine Mutter sang das Schubertlied An die Nachtigall, als sie die Karte mit dem Begriff Vogel zog. Keiner von uns konnte mitsingen und darum kassierte ganz alleine sie alle Punkte für diese Karte. Ich sang Lemon tree, als ich Baum zog. Sofort sangen Sharoni, David und meine Mutter mit und wir mussten uns die Punkte für diesen Begriff teilen. Esther und mein Vater sangen im Duett Somewhere over the rainbow aus dem Musical Wizard of Oz, als mein Vater den Begriff Regenbogen gezogen hatte.
Irgendwann nahm Sharoni die Karte mit dem Begriff Weg vom Stapel. Sie überlegte eine ganze Weile, während wir warteten und nicht wussten, über welches Wort sie da nachgrübelte. Darum konnte auch keiner einen Tipp geben. Aber David passte auf wie ein Luchs, denn ihm fehlten noch Punkte und er wollte in keinem Fall den Moment zum Mitsingen verpassen, um so an den Punkten dieser Karte mitzuverdienen. Aber ich glaube, eigentlich wollte er einfach gerne zusammen mit Sharoni singen, die eine schöne Stimme hat und die die Augen beim Singen schließt. Ich sah ein paar Mal, wie David sich bemühte, gleichzeitig mit Shar in die Schüssel mit den Datteln und Feigen zu greifen, nur um, wie ich annahm, ihre Finger zu berühren.
»Ah, jetzt habe ich endlich einen Song«, sagte sie in diesem Moment und lächelte in die Runde. Dann begann sie, mit leiser Stimme auf Jiddisc h das alte Widerstandslied Sage nie, dass du den letzten Weg gehst von Hirsch Glick zu singen.
»Sog nit keyn mol as du geyst dem letzten weg …«
Still saßen wir hinterher alle da und sahen, dass Esther
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