Vom Himmel hoch
EINS
Die kleine Stadt schlief noch, als Elfriede Möhlmann
am Morgen dieses herrlichen Frühsommertages auf Harald Banzer traf.
Wie an jedem Werktag war sie mit ihrem Fahrrad und den
beiden schweren Gepäcktaschen unterwegs, um das »Nordfriesland Tageblatt«
auszutragen. Fast jeder in Bredstedt kannte Elfriede, die seit vierzig Jahren
bei Wind und Wetter den Menschen die Morgenlektüre ins Haus brachte.
Nur Harald Banzer hatte sie noch nicht kennen gelernt.
Doch sollte er ihr nach der ersten und einzigen Begegnung für ewig in
Erinnerung bleiben.
Er lag, merkwürdig verrenkt, mitten auf dem
Marktplatz, gleich neben dem Schweinebrunnen, einem Kunstwerk, das vier
hässliche Betonschweine zeigte, die ähnlich den Bremer Stadtmusikanten
übereinander standen.
Zunächst nahm Elfriede ihn nur als regloses Bündel
wahr. Als sie sich neugierig näherte, sah sie in Augen, die starr an ihr vorbei
ins Leere blickten. Das Gesicht war zu einer eigentümlichen Fratze verzerrt,
während angetrocknete Rinnsale aus Mund, Nase und Ohren auf innere Blutungen
schließen ließen.
Elfriede erstarrte, öffnete vor Schreck ihren Mund und
spürte, wie ihr eine Mischung aus Grauen und Angst in die Glieder fuhr. Sie
warf einen Blick über den Marktplatz, der zu dieser frühen Stunde ihr allein
gehörte. Niemand war zu sehen, zumindest kein lebendes Wesen.
Hastig schob sie ihr Fahrrad ein Stück weiter zum
Unterstand der Bushaltestelle, lehnte es gegen die Sitzbank und kramte aus
ihrer Jackentasche das Handy hervor. Mit zittrigen Fingern drückte sie die
Kurzwahltaste und versuchte, die Verbindung zu Robert herzustellen, ihrem seit
einigen Jahren pensionierten Mann, der sich daheim noch in den letzten Träumen
der weichenden Nacht wiegte.
Es dauerte eine Weile, bis sich eine knarrende,
verschlafene Stimme meldete.
»Robert«, keuchte Elfriede in das kleine Gerät an
ihrer Wange, »da liegt ein Toter.«
Einen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende, dann
hörte sie, wie ihr Mann sich freihustete, eine Angewohnheit, die den langjährigen Raucher verriet.
»Was sagst du?«, kam es ungläubig zurück.
»Ich habe einen Toten gefunden. Der liegt direkt neben
dem Schweinebrunnen.«
Dann hörte sie die Antwort, die in solchen Situationen
immer gegeben wird. »Das kann nicht sein!«
»Doch«, erwiderte sie, nun mit Ärger in der Stimme.
»Ich spinne doch nicht.«
Roberts Stimme klang jetzt besänftigend. »Der ist
vielleicht nur betrunken und pennt dort seinen Rausch aus.«
»Nein!« In Elfriede keimte Zorn über ihren Gatten auf.
Warum müssen Männer immer alles besser wissen, obwohl sie gar nicht vor Ort
sind?
»Der ist nicht betrunken. Der ist tot.«
Robert räusperte sich erneut. »Woher willst du das
denn wissen?«, fragte er.
»Da läuft Blut aus seinem Kopf. Außerdem guckt er so
komisch.«
»Wenn er aus der Nase blutet, hat ihm vielleicht ein
Zechkumpan eine verpasst«, versuchte der ferne Ehemann eine Erklärung. »Und was
heißt hier, er guckt so komisch?«
»Na, eben so … Wie soll ich das beschreiben. Eben so …
wie … na, wie ein Toter.«
Robert seufzte am anderen Ende der Leitung. Er war
jetzt vollends wach.
»Weißt du was?«, knurrte er. »Ich rufe die Polizei an.
Warte dort, bis sie eintrifft.«
»Ist gut, Robert«, flüsterte Elfriede und blickte
dabei unbehaglich in Richtung des reglosen Menschenbündels. »Und … Robert …
danke!«
Es knackte kurz im Handy als Zeichen dafür, dass ihr
Mann die Verbindung unterbrochen hatte.
Elfriede setzte sich auf die Bank im gläsernen
Unterstand der Haltestelle und starrte auf die gegenüberliegende Straßenseite,
als könne sie damit den Toten ignorieren und das soeben Erlebte ungeschehen
machen.
*
Als Christoph die Haustür öffnete und auf die Straße
trat, schälte sich ein hoch gewachsener blonder Mann hinter dem Lenkrad des
wartenden gelben Minis hervor, klappte den Fahrersitz nach vorn und wies
einladend auf die hintere Sitzbank.
»Guten Morgen«, grüßte der junge Mann und strahlte
trotz der frühen Stunde eine erstaunliche Vitalität aus, so als wäre es die
natürlichste Sache von der Welt, in aller Herrgottsfrühe vor dem roten
Backsteinhaus auf seinen Chef zu warten.
»Guten Morgen«, erwiderte Hauptkommissar Christoph
Johannes den Gruß seines Mitarbeiters Harm Mommsen und quälte sich auf die enge
Rückbank des kultigen Wagens.
Mit einem weiteren kurzen Nicken begrüßte Christoph
den dritten Mann im Wagen, der auf dem Beifahrersitz hockte,
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