Wer Hat Angst Vorm Zweiten Mann
verliebten Pärchen, das ich unter meinem Balkon vorbeilaufen sah, und dem zweiten Glas Wein ließ ich den Vorsatz jedoch wieder fallen und holte den Brief der Zweiten Runde für die Liebe aus der Küche. Ich nahm meinen Laptop, klickte mich auf das Vermittlungsportal und registrierte mich unter der mir im Brief genannten Kennung als Probeabonnent. Dann inserierte ich, nachdem ich mir wieder mal eine fiktive E-Mail-Adresse zugelegt hatte, folgende Anzeige:
Alleinerziehende Mutter, 37, charakterlich komplex, freiheitsliebend und situationsbedingt impulsiv, mit drei kleinen Kindern, einem Hund, zwei Schildkröten und einem anstrengenden, Mitsprache fordernden Exmann
SUCHT:
mutigen Mann,
der sich selbst nicht zu ernst und
das Leben mit Humor nimmt;
der entscheidungsfähig ist,
nicht um den heißen Brei herumredet,
das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden weiß,
der keinen eigenen Kinderwunsch mehr hat
und keinen Wert auf einen gemeinsamen Haushalt legt.
Freiberufler werden wegen ihrer zeitlichen Flexibilität bevorzugt.
Nachdem ich das Inserat per Knopfdruck bestätigt hatte, mailte ich Cosima eine Kopie und schrieb dazu:
Das hätte ich schon vor einem Jahr annoncieren sollen, dann hätte ich mir bestimmt viel Kummer erspart. ☺☺☺☺☺☺☺☺☺☺☺☺☺☺
12
Ich rechnete nicht damit, dass sich jemand ernsthaft auf meine Anzeige melden würde. Wenn doch, musste dieser Mann so naiv, weltfremd oder völlig wahnsinnig sein, dass ich ihn von vornherein ausschließen konnte.
Somit überraschte es mich nicht, dass ich zunächst lauter E-Mails erhielt, die beispielsweise so lauteten:
» Freiberuflicher Rennsport- und Gewinnspielanalyst mit wechselndem Wohnsitz (saisonal bedingt) sucht genau dich – just sex, thank you.«
Oder:
»Liebesbedürftiger Tierpfleger möchte dich treffen zwecks gemeinsamer Auswertung von leistungsbedingten Ausdauermerkmalen beim tierischen Hochleistungssport mit drei Buchstaben …«
Oder:
» Werde meinen Rammler mitbringen, damit die Schildkröten auch mal ihren Spaß haben …«
Einige Tage später erreichte mich jedoch eine Antwortmail, die sich von der Spamflut unterschied:
Raoul, ein Kameramann, wollte mich kennenlernen, weil er meinen Sinn für Selbstironie mochte. Raoul filmte für Tier- und Naturreportagen in aller Welt und suchte nach einer Beziehungsform, die auf gegenseitigem Vertrauen beruhte, gleichzeitig aber jedem viel Freiraum ließ. Um ein häufiges Hin- und Hermailen und realitätsfremde Fantasien vom anderen zu vermeiden, schlug er ein persönliches Treffen in einem Café möglichst bald vor. Ein Close-up-Foto seiner Hand, das er der Mail angehängt hatte, sollte als Erkennungszeichen dienen.
»Ort und Zeitpunkt kannst du bestimmen«, beendete Raoul seine Mail. »Da ich gerade nicht drehe, bin ich flexibel und kann mich nach dir richten.«
Fasziniert las ich Raouls Mail immer wieder. Sein Text wirkte so souverän und männlich, und sein Beruf und sein Beziehungsideal passten geradezu perfekt zu mir. Ohne lange zu überlegen, mailte ich deshalb zurück:
»Morgen früh um elf im Café Atlantik, Bergmannstraße, Kreuzberg, zum Frühstücken?«
Sekunden später erhielt ich ein »Ok« als Antwort.
Da das schöne Wetter auch am nächsten Tag anhielt, setzte ich mich im Café Atlantik nach draußen und legte mit einer Mischung aus Nervosität und Vorfreude das Foto von Raouls Hand vor mir auf den Tisch. Ich sah mich um. Neben mir saßen drei Türken und ein B-Klasse-Schauspieler, den ich kürzlich in einer Minirolle im Kino gesehen hatte, und alberten herum. Auch sonst sah keiner der anwesenden Gäste so aus, als würde er auf jemanden warten.
Ein Glück, dachte ich, dass ich Raoul geistesgegenwärtig eine Location in Kreuzberg vorgeschlagen hatte. Am Prenzelberg kannte ich inzwischen so viele Leute, dass mich garantiert jemand mitten im Blind Date gestört hätte.
Da meine Blase verrückt spielte, wie immer wenn ich nervös war, ließ ich das Foto auf dem Tisch liegen und ging hinein Richtung Toiletten. Dort erstarrte ich fast vor Schreck: Auf einem Barhocker saß Jesco und blätterte in einer Zeitung. Mein Herz begann zu rasen. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht. Doch dazu war es zu spät, denn nun hatte auch Jesco mich entdeckt.
»Hey Phyl«, sagte er, »lange nicht gesehen.«
»Stimmt«, antwortete ich, und meine Stimme klang krächzend. »Was machst du hier?«
»Kaffeetrinken und Zeitung lesen«, sagte Jesco und sah
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