Wie die Iren die Zivilisation retteten
endlose Sequenzen über Vorfahren, über ehemalige Lehrer, über das Alltagsleben, über klassische Gegenstände (die Helden des Trojanischen Krieges, die zwölf Caesaren), endlose Wortspiele und endlose Nachahmungen von Vergil. Ein einziges heißes Gedicht namens
»Cento Nuptualis« ist dabei – jedenfalls ist es so heiß, daß es in Loebs Ausonius ohne Übersetzung steht und ebenso viele Generationen
alternder Latinisten wie Generationen frustrierter Schuljungen angeregt hat: die klinische, zynische Beschreibung der Entjungferung einer Braut in der Hochzeitsnacht. Doch sogar hier ist er vorsätzlich unoriginell: Jede Wendung ist den Gedichten Vergils entnommen. Auf
diese Weise versuchte er, die Zensur zu umgehen – indem er sich an die unantastbare literarische Autorität anlehnte – und für die blen-dende Darstellung seiner Vergil-Kenntnisse Bewunderung zu erlan-
gen. Doch abgesehen von diesen hommages, gibt es so gut wie keine denkwürdige Formulierung, sondern nur hochgestochene Sprüche,
verfaßt nach altbewährtem Rezept. Seine Briefe, die ebenso endlos sind, lesen sich nicht besser: kaum eine Information, die zu übermitteln notwendig wäre; Einsichten sind rar, und echtes Gefühl fehlt beinahe vollständig. Auch wenn seine verweichlichten Zeitgenossen Ausonius mit Vergil und Cicero verglichen – praktisch alle anderen schlossen sich der unerschütterlichen Meinung Gibbons an: »Der
Dichterruhm von Ausonius liefert ein vernichtendes Urteil über den Geschmack seiner Zeit.« Wie war es möglich, daß ein erwachsener
Mann seine Tage auf so unnütze Art vertat? Nun, er tat, was alle
taten. Es ist eine statische Welt. Zivilisiertes Leben – wie die Kultivie-rung von Ausonius’ herrlichen Weinbergen in Bordeaux – heißt, das gut zu machen, was auch vorher getan worden ist. Die höchste Tugend ist, das Erwartete zu tun – und die zweithöchste sieht ähnlich 24
aus: dafür die angemessene Bewunderung von Gleichrangigen zu
ernten.
Ausonius ist zwar ein Anhänger des Christentums, wie seine „Ora-
tio“ zeigt, doch sein Christentum ist nur ein Deckmantel, der bei Bedarf an- oder abgelegt wird. Zweifellos hielt er es damit wie alle anderen. Sein wahres Weltbild schimmert in seinem gesamten Werk
durch – eine Art agnostisches Heidentum, das es ihm ermöglichte, die stillen Schatten der heidnischen Unterwelt anzurufen, ohne seinen Lesern je das Gefühl zu geben, er glaube an irgendeine andere Welt als diese. Anhand von Ausonius – und all den anderen »besten Menschen« jener Zeit, die einander derart gleichen, daß man sie kaum auseinanderhalten kann – erkennen wir den Haken an Gibbons Analyse von Roms Untergang. Die mächtigen Götter Roms sind nicht von irgendeiner unmännlichen östlichen Phantasiereligion in den Schatten gestellt worden. Die fruchtbare Venus und der blutige Mars überlie-
ßen dem pathetischen, pazifistischen Christus nicht einfach das Feld.
Die alte Religion war bereits vorher geschwächt; und zu der Zeit, da der römische Adel auf das Christentum aufmerksam wurde, waren
die Götter nur noch ein Schatten ihres einst lebendigen Selbst –
schwache quieti manes , die durch eine kaum sichtbare Ewigkeit husch-ten. Es ist kein Zufall, daß uns beim Blick auf Donau und Rhein – die beiden Flüsse, die die zivilisierte Welt von der der nördlichen Barbaren trennten – nicht als erstes die geisterhaften Götter Roms, sondern die mächtigen Gottheiten der germanischen Stämme einfallen.
Ausonius machte als grammaticus Karriere, als Professor für Latein in Bordeaux, das zu der Zeit eine der großen Universitäten des Reiches sein eigen nannte. Sein Ruhm als Lehrer erreichte sogar den
kaiserlichen Hof, und nach dreißig akademischen Jahren wurde er an den Goldenen Palast in Mailand gerufen (denn die königliche Familie residierte nicht mehr in Rom), um Privatlehrer von Gratian zu werden, dem Sohn von Valentinian, dem Kaiser des Westens. Als Gratian 368 seinen Vater auf einem Feldzug gegen die Germanen begleitete, reiste Ausonius als eine Art poeta laureatus mit und paßte sich der Situation mit den üblichen verbindlichen Ergebnissen an auch wenn dies zugleich die Zeit seines Kasernenhumors war: Er schrieb »Cento 25
Nuptualis«, wie er selbst berichtet, auf Anregung des Kaisers persönlich. Als Kriegsbeute gewann Ausonius unter anderem die Dienste
einer germanischen Sklavin, deren Anmut er in Bissula besang:
Delicum, blanditiae, ludus, amor, voluptas,
barbara, sed
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