Wie halte ich das nur alles aus?: Fragen Sie Frau Sibylle (German Edition)
»Hast du einen Wunsch?«
Und ohne nachzudenken, würde man antworten: »Mach die weg. Alle.«
Das passiert natürlich nie. Solche Fragen stellt Gott nicht, er verkleidet sich auch nicht als Elf, er kommt nur vorbei und sagt: »Hau schnell ab, geh in die Natur, da hat es keine Menschen, und wenn, dann sind sie leise.«
Gesagt, getan, und – gibt es eigentlich noch Natur in der Schweiz, oder inzwischen nicht mehr? Ich muss die Sonntagszeitung fragen, die neulich die entsetzte Überschrift präsentierte: »Die Deutschen kaufen die Schweiz auf!!!!« Dabei gehört zu einem Kauf auch immer ein Verkäufer. Egal, ein paar Hektar, die noch nicht verkauft oder verbaut worden sind, gibt es sicher noch. Der Mensch muss sich ja erholen, damit er danach weiter nerven kann.
Ich fahre also ins Grüne. Eine niedliche Pension. Eine Käseplatte, am Nebentisch schweigende Eheleute. Und ich denke an meine Jugend, da ich, blöd, wie die Jugend nun mal ist, schweigende Paare für ein Synonym des Unglücks hielt. Ich meinte, als Paar muss man unentwegt hysterisch kichern, spitze Schreie ausstoßen und quatschen, quatschen, quatschen. Aber ich verzeihe mir meine Einfalt von damals. Der gemeine Jugendliche ist die einzige Bevölkerungsgruppe, der ich ungebremste Dummheit gestatte. Sie wissen es ja noch nicht besser. Morgen, denke ich, als ich in dem wie immer viel zu dicken Federbett versinke, morgen werde ich in der Natur wandern. Scheiß der Hund drauf, wenn die den Deutschen gehört. Ich werde behende wie eine junge Gemse über Pässe hüpfen, in Bächen baden, und ich werde niemanden sehen.
Der Morgen kommt mit goldenem Licht, ein paar Hubschrauber fliegen herum, ansonsten Ruhe. Die erste Stunde Wandern ist immer ein wenig befremdlich. Der Atem rasselt, der Blick streift den Bergschuh, schämt sich, zuckt zurück. Anstrengend ist es und völlig sinnlos. Danach beginnt allerdings die meditative Beruhigung. Auf einmal ist der Atem vergessen, das Elend, die Hubschrauber und endlich auch der Gedanke, dass mich an ihren speziellen Tagen andere Menschen so hasserfüllt beobachten wie ich sie. Nur noch Grün und Ruhe, die Beine machen ihren Job, ohne dass ich darüber nachdenken muss. Und fast habe ich schon wieder Freude daran, am Leben zu sein, da naht laut klingelnd ein Mountainbikefahrer. Natürlich erwartet die in Neopren gewickelte Fleischwurst, dass ich ausweiche. Normal. Ich bin eine Frau, ich bin zu Fuß, ich bin ja wie gemacht zum Ausweichen. Aber der Weg ist nicht meiner, er ist das Ziel – fahrt nur ein wenig spazieren, ihr drolligen Helmträger.
Zack, da kommt schon der nächste. Eine kleine Gruppe hormonverseuchter Jungmänner, im normalen Leben vermutlich Anzugträger oder Banksachbearbeiter, spritzt an mir vorüber. Ich atme Staub, habe mich erschreckt. Nein, sonst ist nichts passiert, alles in Ordnung.
Hey, ist ja ein Wanderweg, sagt ja keiner, ob man mit Füßen oder Rädern wandert – hoppla, da sind schon wieder welche. Immer wenn ich in der Ruhe versinken will, kommen sie: Klingelnd, schwitzend, stöhnend rasen sie durch den Wald. Wir sind ja nicht zum Spaß auf der Welt! Das ist Freizeit, und die will gestaltet sein. Aber warum muss man dabei so beschissen aussehen? Warum muss man, um ein wenig Rad zu fahren, solche Wurstpellen tragen? Und Helme und Schuhe und alles extra und teuer und zack! schon wieder welche. In einer Stunde Wanderung scheuchen mich an die 50 Fahrräder zur Seite. Ab und an begegnet mir ein anderer Wanderer mit gehetztem Blick.
Angst. Ich habe Angst. Sportler machen mich un ruhig. Ich verstehe nie, was die wollen. Ewig leben? Noch ewiger? Und es sind doch meist die langweiligsten Leute, die Sport treiben. Wozu noch länger leben, ihr grauen Mäuse? In einer Welt, die mit Menschen überfüllt ist? In einer mit Menschen überfüllten Welt, in der am Wochenende das Mountainbike geschultert wird, um mal so richtig durch die Natur zu brettern und Wanderer zu erschrecken. Ja, ich verstehe euch, ihr lieben Mountainbiker, ihr wollt Adrenalin, ihr wollt außer Atem sein, pfeilschnell Abhänge runter, an euer Limit kommen, und danach das Gefühl, taff zu sein und es allen gezeigt zu haben. Ihr seid plötzlich keine kleinen Bankwürste mehr, sondern Helden. Ich habe Verständnis. Doch ich verzeihe keinem! Ich hasse euch.
Und wenn Gott in dieser Sekunde käme und fragte: »Was wünschst du dir, du niedliche kleine Dame?«
Ich wüsste die Antwort.
hosted by www.boox.to
Über die Autorin
Sibylle
Weitere Kostenlose Bücher