Wikinger der Liebe
Vergangenheit kaum vorstellen konnte. »Ich weiß, sie wünschte sich die Liebe meines Vaters. Und die konnte er ihr nicht geben...«
»Er war ein guter Mann. Doch sein Herz gehörte der Pflicht. Für die Liebe war kein Raum darin.«
»Trotzdem liebte sie ihn.«
»Weil ihr gar nichts anderes übrig blieb. Dass ich’s verstehe, will ich nicht behaupten. Manche Leute halten die Liebe für eine Schwäche. Die anderen nennen sie ein Fieber, das heiße Wellen durch die Adern jagt. Fragt mich nicht, in solchen Dingen bin ich unerfahren. Nur eins weiß ich - Eure Mutter besaß eine große innere Kraft. So wie Ihr. Trotzdem war sie der Liebe hilflos ausgeliefert.«
»Aber ich liebe Hawk nicht«, protestierte Krysta, »ich kenne ihn kaum...« Abrupt verstummte sie und erinnerte sich an den Kuss im Stall, an jenes Gefühl, als wäre er ihr vertraut. Vielleicht dauerte es gar nicht so lange, jemanden kennen zu lernen, denn die Seele nahm Dinge wahr, die sich dem Gehirn erst später offenbarten. »Nein, ich liebe ihn wirklich nicht.« In ihrer Stimme schwang ein wehmütiger Unterton mit.
»Habt Ihr erwartet, ihr könntet sein Herz gewinnen, ohne ihn zu lieben?«
»Nun, ich dachte, zuerst müsste er mich lieben. Danach würde ich mich sicher fühlen und seine Glut erwidern.«
»In der Liebe gibt es keine Sicherheit, Mylady. Wenn Ihr Euch vor jeder Gefahr schützen wollt, müsst Ihr Euch in einer Höhle verkriechen. Aber um zu leben, wirklich zu leben, dürft Ihr Euch nicht verstecken. Jeder Flug - mit Schwingen oder mit dem Herzen - ist ein Wagnis.«
»Ein Wagnis, das meine Mutter getötet hat.«
»Sagt so etwas nie wieder!«, mahnte Raven. »Kein einziges Mal habe ich behauptet, sie sei tot.«
»Sie ging ins Meer...« Beinahe erstickte Krysta an diesen Worten, doch sie musste sie aussprechen, denn sie lagen schon viel zu lange wie Steine in ihrer Brust.
»O nein, sie wurde ins Meer gerufen«, entgegnete Raven, »und das ist ganz was anderes.«
»Gewiss, das hast du immer gesagt. Was soll ich denn glauben? Dass sie ein verzaubertes Geschöpf war wie die Meerjungfrau in Lord Dragons Geschichte? Oder ein Ungeheuer, wie Sven behauptet hat? Oder einfach nur eine Frau, wie ich eine Frau bin, die ihr Leben nicht mehr ertrug? War sie so schrecklich verzweifelt? Konnte nicht einmal ihr Kind sie zurückhalten?«
»O Mylady, sie liebte Euch! Und sie wollte bei Euch bleiben.«
»Warum hat sie mich dann verlassen?« Auf Krystas Hand fiel ein glänzender Tropfen, und ein zweiter folgte ihm. Überrascht betrachtete sie die Perlen, bis sie die Tränen auf ihren Wangen spürte. Nie zuvor hatte sie solche Fragen gestellt, sie hatte sich nicht einmal gestattet, daran zu denken. Aber jetzt waren all die verschütteten Ängste aus ihr herausgebrochen. Ihre Kehle schmerzte. Mühsam würgte sie hervor: »Tut mir Leid, das hast du nicht verdient, Raven. Du und Thorgold, ihr habt immer euer Bestes für mich getan.«
»Was Eure Mutter wünschte, und was sie selber getan hätte, wäre es ihr vergönnt gewesen, bei Euch zu bleiben.« Behutsam wischte Raven die Tränen von Krystas Wangen. »Ihr habt die Gabe Eurer Mutter geerbt, uns aus jener anderen Welt in diese zu rufen. Aber ich wies Euch stets auf die Kehrseite der Medaille hin. Auch Ihr könnt ins andere Reich geholt werden. Das widerfuhr Eurer Mutter, als sie ihr Unglück in dieser Welt nicht mehr aushielt.«
Seufzend senkte Krysta den Kopf. Einen Augenblick lang wünschte sie inständig, sie könnte sich wieder an Raven schmiegen, wie so oft in der Kindheit, und in den Falten des schwarzen Gewands Schutz suchen. Früher hatte Raven sie zärtlich »mein kleines Hühnchen« genannt. Darüber hatten sie beide gelacht. Jetzt war sie kein Kind mehr, und sie gab der Freundin Recht - jeder Flug war ein Wagnis. Trotzdem lockte die große weite Welt.
»Geht zu ihm, Mylady«, schlug Raven leise vor. »Er wird Euch nicht täuschen. Wenn es zu früh ist, in sein Herz zu schauen, versucht in seinen Augen zu lesen.«
Schweigend nickte Krysta. Eine kleine Weile blieb sie noch neben der treuen Freundin sitzen und betrachtete das Meer. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, vertraute ihren Träumen und eilte aus dem Zimmer.
Hawk sah sie den Turnierplatz überqueren. In der schwülen, windstillen Hitze hatte er ein Band um seine Stirn gewunden, das die Schweißtropfen auffing, die sonst in seinen Augen brennen würden. Ohne sein Hemd, nur mit Breeches und Stiefeln bekleidet, senkte er sein
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