Wilde Wellen
Ruck durch das Tier. Es hob seinen Kopf. Seine schwarzen Augen starrten Leon an. Der Rabe breitete die Flügel aus und entschwand im Bruchteil einer Sekunde in der Schwärze des Regens. Leon rang nach Luft. Obwohl er sich sagte, dass er sich eben getäuscht hatte, dass der Rabe durch den Aufprall am Fenster wohl nur bewusstlos gewesen war, konnte er nicht verhindern, dass ein Schauder durch seinen Körper kroch. Sein Blick bohrte sich in die Dunkelheit, in der sich der Rabe längst verloren hatte. Es gefiel ihm nicht, dass ihn der Anblick des schwarzen Vogels so aus der Fassung gebracht hatte. Raben galten in der Mythologie als weise Vögel, als Begleiter der Götter. Es gab nicht den geringsten Grund für die Unruhe, die in ihm aufstieg. Mal ganz abgesehen davon, dass er sowieso nicht an diesen ganzen mystischen Blödsinn glaubte. Für Leon gab es nur das, was er sehen konnte. Und berühren. Die Realität, in der er lebte, nichts weiter. Jeden, der an Zeichen glaubte oder an übersinnliche Zusammenhänge oder mystische Bedeutungen, hielt er für irrational. Und belächelte ihn insgeheim. Das Hier und Jetzt war das Einzige, was ihn interessierte. Diese siebzig oder achtzig Jahre, die der Mensch auf Erden wandelte, auf sie allein kam es an. Danach würde nichts mehr kommen, da war er sich sicher. Umso wichtiger war es für ihn, war es immer gewesen, das Beste aus diesem Leben zu machen. Man hatte nur diese eine Chance.
Als sich sein Atem wieder normalisiert hatte, schalt er sich leise einen Narren. Sich so von einem Vogel erschrecken zu lassen. Gott sei Dank hatte Claire ihn nicht gesehen in dieser Situation. Leon war es wichtig, dass seine Frau nicht an seiner Stärke zweifelte. Er war verantwortlich für sie. Sie sollte sich sicher bei ihm fühlen. Geborgen. Ein Mann durfte keine Schwäche zeigen, das war sein Credo.
Claire schlug die Augen auf. Sie lag, umhüllt von duftendem Schaum in ihrer überdimensionalen Badewanne. Nur ein kurzes, wärmendes Bad hatte sie nehmen wollen, bevor sie mit Leon zum Essen ausging. Und war dann doch ein wenig eingenickt. Diese Zeit zwischen Sommer und Herbst machte ihr schon immer zu schaffen. Die Ahnung des kommenden Winters mit seinen endlosen Regentagen, mit den Stürmen, die über das Land fegten, den kurzen Tagen, den kalten, feuchten Nächten, lag ihr schwer auf der Seele. Auch wenn der September immer wieder diese schönen Tage brachte mit dem stimmungsvollen Spätsommerlicht und den wärmenden Sonnenstrahlen â Claire war es immer, als sei in ihr Inneres schon der Frost eingekehrt. So oft sie konnte legte sie sich ins heiÃe Wasser, kuschelte sich mit einer dicken Kaschmirdecke in einen Sessel, trank heiÃen Tee.
»Kleine Frostbeule« nannte Leon sie zärtlich. Und schenkte ihr ein ums andere Mal dicke Pullover, Stricksocken, Mützen und Handschuhe und Schals, in die sie sich dankbar hüllte.
»Nur noch fünf Minuten.« Sie lieà heiÃes Wasser zulaufen, schloss wieder die Augen. Wie schwer es jedes Mal war, aus der Geborgenheit der Wanne aufzustehen. Schon der Gedanke daran, in diese Nacht hinauszumüssen, lieà sie erschaudern. »Nur noch fünf Minuten.«
Leon klopfte zum zweiten Mal an die schwere Eichenholztür. Vermutlich hatte Claire ihn nicht gehört. Er wartete. Niemals war er in den Jahren seiner Ehe in Claires Badezimmer getreten, ohne vorher anzuklopfen. Nicht dass seine junge Frau das etwa von ihm verlangt hätte. Es war Leon von Anfang an ein Bedürfnis gewesen, Claire zu zeigen, dass er sie respektierte. Dass sie ihren Freiraum hatte, auch wenn sie verheiratet war. Vielleicht war es auch ein unbewusstes Schamgefühl gewesen, das Leon zu dieser deutlichen Rücksichtnahme veranlasst hatte. Immerhin war Claire gerade mal achtzehn Jahre alt gewesen, als er sie geheiratet hatte. Nur ein paar Jahre älter als seine Tochter Eva. Fast noch ein Kind. Auch wenn sie damals schon mit Caspar schwanger gewesen war. Er wusste, dass ihn die Leute schief ansahen, als bekannt wurde, dass er kurz nach der Trennung von seiner Frau Sabine die junge Claire heiratete und sie auch noch bald darauf ein Kind von ihm bekam.
»Was will sie von dem alten Kerl?«, fragten sich die Leute.
»Es geht ihr doch nur ums Geld.«
»Das hält nicht lange. In fünf Jahren sind sie wieder geschieden.«
»Er macht sich doch zum Narren, sich auf so ein junges
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