Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Haufen Ziegelsteine, und viele ihrer Nachbarn waren in ihren Luftschutzbunkern lebendig begraben worden. Mervyn war entsetzt und, wie wohl jeder kleine Junge an seiner Stelle es wäre, zutiefst beeindruckt.
Jeder Vater denkt, glaube ich, wieder an seine eigene Kindheit, wenn er mit seinem Sohn spielt. Und jeder kleine Junge teilt die Leidenschaften seines Vaters, bis die Pubertät die Sehnsucht wach werden lässt, sich loszureißen und eigene Wege zu gehen. Die Landschaft meiner eigenen Kindheit in London ist voller Erinnerungen an die Jugend meines Vaters. Mehr noch als meine Schulkameraden, glaube ich, hatte ich eine richtige Dreißigerjahrekindheit. Eines der ersten Bücher, die ich gelesen habe, war meines Vaters Schneewittchen und die sieben Zwerge in der zum Disney-Film von 1937 erschienenen Ausgabe, illustriert mit dreidimensionalen Bildern, die man durch eine Pappbrille mit einer roten und einer grünen Plastikfolie betrachtete. Später verschlang ich seine Jahrbücher des Boy’s Own Paper und dicke Abenteuerbücher voller Doppeldecker und bedrohlicher Fuzzi Wuzzis ***** . Am Morgen meines achten Weihnachtsfestes entdeckte ich einen mit Sackleinen bezogenen großen Koffer in meinem Zimmer. Darin war eine herrliche Spur-0-Hornby-Modelleisenbahn mit einer fantastischen grünen Lokomotive namens Caerphilly Castle. Mein Vater hatte sie Weihnachten 1939 von meinem Großvater bekommen, eines der wenigen Geschenke, die sein Vater ihm je gemacht hatte. In einem anderen Jahr gab mir mein Vater seinen Meccano-Baukasten, in einer speziellen Holzkiste mit Schubladen und Unterteilungen für die Bolzen und Tragbalken, dazu ein wunderbar illustriertes Handbuch mit Jungen in kurzen Hosen und Kniestrümpfen. Ich saß stundenlang allein auf dem Fußboden meines Dachbodenzimmers und baute aufwändige Portalkräne, Panzerzüge und Hängebrücken, über die die Caerphilly Castle fahren konnte.
Manchmal erweckte mein Vater seine Dampfmaschinen fauchend zum Leben, angetrieben von einem mit einem Spiritusbrenner befeuerten Kessel. Ich liebte den Geruch von heißem Maschinenöl und Dampf. An den Wochenenden fuhren wir oft ins East End und sahen uns die Thames Barges in den St. Katharine’s Docks an, oder wir wühlten bei Ebbe im Themseschlamm nach Bruchstücken von Tonpfeifen und alten Flaschen. Als ich ein bisschen größer war, machten wir lange Spaziergänge durch Pimlico. Wir ließen die sauberen weißen Thomas-Cubitt-Fassaden der Hauptstraßen links liegen und bogen in die Turpentine Lane ein, eine Abkürzung, die uns hinunter zur träge dahinfließenden Themse gegenüber der Battersea Power Station führte. Von allen Straßen, die ich in London gesehen habe, ähnelt die Turpentine Lane mit ihren rußgeschwärzten Ziegelwänden und winzigen Hinterhöfen am ehesten einem Seitensträßchen in Südwales.
Wir bauten zusammen Modellsegelschiffe, nicht aus Bausätzen, sondern wir schnitzten sie aus großen Holzklötzen, die wir aus Containern holten. Die Spieren, Segel und Flaschenzüge fertigten wir mit einem kleinen Schraubstock, einem Stanley-Messer und einer alten Zange. Besonders stolz war mein Vater, als er mir einen wunderschönen Hobel gab, mit dem ich mir einen großen und wunderschönen Themselastkahn fertigte.
Die Kindheit meines Vaters änderte sich schlagartig, als er mit 15 vom Fahrrad fiel und sich das Becken brach. Durch den Bruch stellte sich heraus, dass Mervyn an einer seltenen Form von Knochenschwund litt. Um das Becken und seine brüchige rechte Hüfte zu heilen, verschrieb der Arzt eine Streckverbandbehandlung. Mervyn wurde regelmäßig in ein Spezialbett geschnallt und seine Beine in Gipsverbände gelegt, an die Gewichte gehängt wurden. Er konnte sich stundenlang nicht bewegen und sah nichts als die Krankenhausdecke.
Insgesamt lag Mervyn über ein Jahr im Krankenhaus, die meiste Zeit davon im Streckverband. Wie seine zukünftige Frau Ljudmila, die genau zur selben Zeit mit einem verkrüppelten rechten Bein im Krankenhaus war, blieb Mervyn nichts anderes übrig, als Bücher zu verschlingen und nachzudenken. Die intensive Langeweile dieser erzwungenen Unbeweglichkeit in einem für die Entwicklung so prägenden Alter scheint in beiden eine lebenslange Ruhelosigkeit gesät zu haben. Die Sucht meines Vaters nach Reisen und verrückten Abenteuern, seine Verachtung für jegliche Autorität und seine Risikofreude, haben ihren Ursprung in jener Zeit, glaube ich – wie auch ein gewisses Talent zum
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