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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Drahtbrille und Windjacke, der still in einem Buch las, und ein froschäugiger Italiener, der ihn anstarrte, so daß Nagl auch ihn anstarrte, bis er sich wegdrehte. Als er Annas Hand nahm, lachte er auf und schaute Nagl ohne Scham in die Augen. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, eine dunkle Krawatte, und sein Haar war streng nach rückwärts gebürstet. Auch als Nagl ihm einen wütenden Blick zuwarf, ließ er sich nicht einschüchtern, sondern schaute ihn weiterhin an. Gleich darauf stand er auf, blieb vor Nagl stehen und sagte: »Ich habe sie nur angesehen.« Er stand da, wie der Gendarm mit der blutenden Hand dagestanden war, schwankte und ging dann den langen Gang im Speisewagen zwischen den Tischen hinunter, ohne sich umzudrehen. Draußen schien es nur Schwärze zu geben, und Nagl fiel ein, was er über das Ende der Welt gelesen hatte. Das Weltmeer würde zufrieren, bis es bis auf den Grund erstarrte und schließlich verdunstete. Der letzte Rest von Leben würde verschwinden und einfallender meteorischer Staub die ganze Erdoberfläche infolge des Sauerstoffs mit einem ziegelroten Mantel überziehen. Wenn der Sauerstoff aufgebraucht sein würde, würde der Meteorstaub seine grüne Farbe behalten und sie dem Leichentuch der Erde geben. Er hatte das vor vielen Jahren gelesen und fragte sich, warum es ihm gerade jetzt einfiel. Der Weg zum Schlafwagen war ein Türenaufreißen und -zuwerfen, ein Tappen durch lange Schlünde im dröhnenden Zuglärm. Anna hatte ihm die Hose ausgezogen, sich neben ihn gehockt und sein Glied gestreichelt, aber Nagl war so betrunken gewesen, daß er eingeschlafen war. Mitten in der Nacht war er erwacht, weil er das Gefühl hatte, jemand sei in seinem Abteil. Das Rollo war geschlossen, so daß nur wenig Licht in das Abteil fiel. Zu seinem Schrecken sah Nagl tatsächlich einen Mann, der sich zu Füßen seines Bettes befand. Er stand aufrecht da und durchsuchte seine Jacke. Nagl wußte zuerst nicht, was er tun sollte. Der Zug dröhnte, und der Mann ließ sich Zeit. Plötzlich hielt er inne und schaute auf Nagl hin. Er schaute ihn ein paar Sekunden lang an, dann verließ er das Abteil. Da Nagl gesehen hatte, daß auf dem Gang Licht brannte, sprang er auf und riß die Tür zum Gang auf. Der Gang war leer. Nagl hatte aber die Tür so heftig aufgerissen, daß der Schlafwagenschaffner in seinem gläsernen Kämmerchen aus dem Schlaf aufschreckte und Nagl verwirrt fragte, was los sei. Nagl antwortete: »Nichts«, und ging zurück in sein Abteil. Er schloß die Tür hinter sich ab und wartete auf den Tag.
    Als er um sechs Uhr die Augen aufschlug, sah er die leuchtend roten Silhouetten von Pinien am Horizont vorüberhuschen.
     
4
    Der Horizont war gelb und ging in eine schiefergraue Wolkenbank über. Am Himmel stand noch der Mond. Gleich darauf tauchte der Zug in Nebel, der alles mit einem blauen Schleier überzog: Weingärten und entlaubte Obstbäume, Häuser. Er schaute aus dem Fenster und fühlte sich wohl. Daß der Mann in der Nacht in sein Abteil gekommen war, erschien ihm jetzt unwirklich. Vielleicht hatte er nur geträumt? Oder vielleicht hatte sich der Mann im Abteil geirrt? … Aber daß er seinen Rock durchsucht hatte? Noch in der Nacht hatte Nagl nachgesehen, jedoch nichts hatte gefehlt, weder das Geld, noch sein Paß. Der Nebel war wieder verschwunden, und die Erde leuchtete rot. Er erinnerte sich daran, daß er in der Nacht betrunken gewesen war. Anna hatte im Speisewagen geweint. Sie hatten wirr vom Alkohol geredet, in sehnsüchtigen Mißverständnissen. In einem Kästchen, neben seinem Kopf, fand er eine Flasche mit Wasser und Gläser und er trank durstig die halbe Flasche aus. Wie schön ihm die Landschaft, die er jetzt noch im Bett liegend vor dem Fenster sah, vorkam. Er lag ganz ruhig da und schaute.
    Sie erreichten den Zug nach Neapel im Laufschritt. Außer Atem stopften sie die Koffer in das Zugabteil und Nagl empfand ein Glücksgefühl, als er die fremde Sprache hörte, die er nicht verstand. Anna war über die Leiter zu ihm gekommen und hatte sich nackt neben ihn gelegt. Er hatte ihr von dem Unbekannten erzählt, der in der Nacht in ihr Abteil gekommen war. Plötzlich hatte er den Verdacht gehabt, daß er etwas mit seinem Tod zu tun gehabt hatte. Der Zug hatte gedröhnt. Es war dunkel gewesen. In einer verborgenen, vom Schlaf verwischten Erinnerung war das Begräbnis des Tierarztes und der Anblick des Gendarmen aufgetaucht, dessen Hand in das Waschbecken geblutet

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