Wo ich zu Hause bin
der Heimat darf nicht in goldenen Farben geschildert werden. Oft genug war es hart und karg. Doch er macht die Erfahrung, dass die ersten Jahre, die man an einem Ort lebt, den Menschen mehr prägen als alles andere: »In der Kindheit also und nirgendwo sonst ist das angelegt, was wir Heimat nennen. Wie aus dem Anbeginn der Schöpfung, mit allen seinen Sinnen nimmt ein Kind die Umgebung in sich auf, und neben Auge und Ohr, nahe am Ertasten, am Greifen und Begreifen mit seinen Händen, ist sogar die Nase wichtig, die Vielfalt, die Eindringlichkeit der Gerüche. Ja, Heimatriecht: für den Jungen aus Hinterpommern zum Beispiel nach dem Sommerdunst im Heu und nach herbstlichen Kartoffelfeuern, nach fangfrisch geräucherten Flundern an der Ostsee und nach Spickgänsen, die in ihrer Kammer auf dem Dachboden reifen.« 9
Heimat wird einem erst richtig bewusst, wenn sie verloren wurde. Das gilt auch für die romantischen Dichter. Fast alle, die in der Romantik die Heimat beschworen haben, schrieben darüber, als sie sie verloren hatten. Das gilt etwa von Joseph Freiherr von Eichendorff. »Wie wohl kein zweiter unter den Dichtern hat Eichendorff uns ins Gemüt geschrieben, was Heimat bedeutet. Fast möchte man meinen: Er hat sie gestiftet. Doch wie wäre das möglich gewesen ohne die nie vernarbte Erfahrung, sie verloren zu haben?« 10 Es ist oft das Heimweh nach der Heimat, das in den Gedichten zum Ausdruck kommt, so wie in seinem Gedicht »Heimweh«:
Wer in die Fremde will wandern,
Der muss mit der Liebsten gehn,
Es jubeln und lassen die andern
Den Fremden alleine stehn.
Was wisset ihr, dunkele Wipfel,
Von der alten, schönen Zeit?
Ach, die Heimat hinter den Gipfeln,
Wie liegt sie von hier so weit!
Am liebsten betracht’ ich die Sterne,
Die schienen, wie ich ging zu ihr,
Die Nachtigall hör ich so gerne,
Sie sang vor der Liebsten Tür.
Der Morgen, das ist meine Freude!
Da steig’ ich in stiller Stund’
Auf den höchsten Berg in die Weite,
Grüß dich, Deutschland, aus Herzensgrund!
Joseph Freiherr von Eichendorff
Heimat verbindet Eichendorff mit der Erfahrung seiner Liebsten. Alles in der Heimat erinnert ihn an die Liebe zu seiner Freundin. Er sehnt sich nach der Heimat, weil er sich nach seiner Liebsten sehnt. Die schöne alte Zeit ist nicht einfach die Zeit des Brauchtums, sondern die Zeit der ersten Liebe. Aber diese Zeit und die Heimat liegen weit weg von ihm. In der Fremde fühlt er sich allein. Da muss er die Sterne betrachten und auf die Nachtigall lauschen. Denn beide erinnern ihn an seine Geliebte. Und in der stillen Stunde des Morgens steigt er auf den höchsten Berg, um Ausschau zu halten nach seiner Heimat, die ihn an die Liebe erinnert, die er verloren hat. Seine Erfahrung von Heimat ist immer auch die Erfahrung der verlorenen Heimat. Sie schildert er mit den andächtigen Worten:
O Täler weit, o Höhen,
O schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andächt’ger Aufenthalt!
Das ist keine romantische Verklärung der Natur. Vielmehr erinnern ihn die Täler und Höhen und die Wälder seiner Heimat an all das, was er an Freude und Leid erfahren hat. Er nennt sein Weilen in der Heimat einen andächtigen Aufenthalt. Er weilte daheim mit Andacht, mit gleichsam religiöser Hingabe, weil ihn dort etwas berührt hat, was größer war als er selbst. Das war nicht nur eine schöne Zeit. In den heimatlichen Tälern und Wäldern hat er sowohl Lust als auch Weh gespürt, Freude und Leid. All das, was unser Herz aufgewühlt hat – Liebe, Freude, Leid, Verlassenwerden, Sehnsucht nach einer neuen Liebe –, verbinden wir mit dem Bild der Heimat. Heimat ist das, wo wir intensiv gelebt haben, wo wir mit unserem Herzen in Berührung waren.
Vor der Romantik war Heimat kein Wort, das das Gemüt berührte. Als Heimat galt vielmehr der Hof, das, was der Bauer erbte von seinem Vater. In der Barockzeit besang man dagegen die himmlische Heimat. Schon Paulus sprach von der Heimat im Himmel: »Unsere Heimat aber ist im Himmel« (Philipperbrief 3,20). Erst als die himmlische Heimat in den Hintergrund rückte, wurde die irdische Heimat mit einer Art Weltfrömmigkeit besungen: »Die Entdeckung der Heimat im Irdischen setzt offenbar Säkularisation, die Verweltlichung der Welt voraus, einen Verlust des Selbstverständlichen im Religiösen.« 11
Dichter suchen, indem sie die Heimat beschreiben, nach ihrer eigentlichen Identität. Sie beschwören die Heimat ihrer Kindheit, um zu erforschen, wer
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