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Yolo

Yolo

Titel: Yolo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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richtig eingeschätzt, würde sie noch leben. Aber ich wähnte mich als Sonjas mütterliche Freundin und ließ ihre eigene Mutter nur allzu gerne im Abseits. Du, wir kriegen das in den Griff … In meiner Selbstüberschätzung war ich davon überzeugt. In wessen Griff? Ich torkelte ja selbst und war an chaotischen Tagen in Gedanken dort, wo Sonja hin schlitterte. Meine Empathie ihr gegenüber war nicht besser als die von Christian mir gegenüber. Während ich seine Reaktion als fast spöttische Herabminderung meiner Schwierigkeiten deutete, reagierte ich selbst auf Sonja wenig sensibler: Es gibt noch andere nette Jungs außer Tibor, zeig ihm die kalte Schulter! Lenk dich ab. Unternimm etwas mit deinen Freundinnen. Was ihr nicht gelang. Also sagte ich kurzerhand das Gegenteil: Wirb um Tibor, erobere ihn dir zurück! Sei ehrlich zu ihm.
    Und meine Ehrlichkeit? Ich resignierte und gaukelte Christian eine heile Welt vor, obwohl mir im Schulzimmer wie im Altersheim das Atmen immer schwerer fiel. Im Gegensatz zu Sonja war ich von konkreten Ängsten befallen: Klassenzusammenlegungen bedrohten meinen Job, Christian machte seine Treue von meiner Verfügbarkeit abhängig, überließ Vaters Altlasten jedoch mir, und parallel zu dieser beglückenden Situation wurde ich von Tag zu Tag jünger und schöner! Du hingegen, Sonja, du bist noch sehr jung und intelligent und hübsch, hast ein intaktes Elternhaus, nach dem Abitur steht dir die Welt offen, du kannst studieren, Karriere machen, Kinder haben! So redete ich auf sie ein – und sie joggte neben mir her, hie und da ein Lächeln ihrer Lehrerin zuliebe. Ich quittierte das damals allerdings als therapeutischen Erfolg.
    Meine innere Verbundenheit zu Sonja dämpfte in mir eine Sehnsucht, die ich mir erst bei ihrem Tod eingestand: eine eigene Tochter.
    Unser Kind wäre jetzt ungefähr so alt wie Sonja wurde.
    Ob Alessandro alleine lebt?
    Die wildfremde Person, die im Korridor auch auf ihre Physiotherapie wartet, nimmt mich in Beschlag: »Ich habe mir gestern drüben im Dorf etwas die Beine vertreten, ich tue das gerne, vor dem Essen noch einige Schritte. Aber eben nicht im Park, da ist es doch langweilig, nicht wahr? Oder sind Sie ein Naturfreak? Gehört Ihnen etwa das Elektroauto auf dem Parkplatz? Also, da komme ich aus dem Dorf heim, neben dem rechten Straßenrand hat es ja extra einen Weg für uns Fußgänger, ich war recht guter Dinge, ich glaube, ich habe sogar gesummt, da überholt mich ein Auto – und von dessen Windschutzscheibe prallt etwas ab, direkt vor meine Füße. Stellen Sie sich vor, da liegt vor meinen Füßen eine Amsel! Das Tierchen hat gezuckt, seine Flügel sind ganz verdreht gewesen, es hat so furchtbar gezuckt … Wenn Sie wüssten, wie mir das wehgetan hat!«
    »Und wie haben Sie reagiert?«
    »Eben gar nicht. Es war unerträglich, ich habe mir diesen Todeskampf nicht mit ansehen können …«
    »Und?«
    »Ich bin einfach weitergegangen. Verstehen Sie das?«
    »Hätte ein Tierarzt das verletzte Tier vielleicht noch retten können?«
    »Das ist es ja, was mich plagt. Genau diese Frage plagt mich.«
    Die verstörte Fremde tut mir leid, ich gebe mir einen Ruck: »Glauben Sie mir, keine Amsel kann so einen Aufprall überstehen. Machen Sie sich keine Vorwürfe, der Vogel ist sofort gestorben.«
    Sie tätschelt meinen Handrücken.
    Ich kann gut trösten. Früher ist das meine Stärke gewesen. Ich habe sogar Christian trösten müssen, als seine Gattin auf der endgültigen Trennung bestand. Sie hatte eine Frau gefunden, die dachte und fühlte wie sie. Mann brauchte da doch wirklich Trost!
    Der Physiotherapeut heißt Jean-Claude, und ich mag den jungen Mann vom ersten Augenblick an. Insbesondere seine Art der Behandlung. Keine Rosskur, eher eine Massage. Wir kriegen das wieder hin, verspricht er, wobei mich das
wir
bei ihm nicht stört. Er ist kein Arzt, er schließt sich tatsächlich mit ein, meint es so, wie es tönt.
    »Wollen Sie sich nicht unserer Walking-Gruppe anschließen?«, fragt er zum Schluss.
    An der Rezeption übergeben sie mir schon das zweite Mal einen Zettel mit der Telefonnummer von Tibor, dem Schüler, der Sonja so zugesetzt hat. Aber ich will ihn nicht zurückrufen. Und joggen werde ich auch nie mehr mit ihm.
    Es geschah oft, dass ich einem meiner Schüler beim Joggen begegnete. Die meisten überholten mich. Kreuzten wir uns, klatschten wir uns mit dem Sportlergruß in die Hände. Manchmal duzten sie mich: etwas dagegen, wenn ich mich dir

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