Zigeuner
Ungarn sorgte, wird noch zu berichten sein. Die Roma vertrauten Viktória. Dies umso mehr, als sie mit Journalisten zusehends schlechte Erfahrungen machten. Aus der Kleinstadt Heves hatten Reporter so verächtlich über die »verantwortungslosen Dummheiten« der Zigeuner berichtet, dass die Presseleute zuletzt mit Steinen beworfen und vertrieben wurden. Als jedoch Vitza auftauchte, öffneten sich die Türen. Auch für mich, den Fremden, den Gadscho.
Die Ungarn nannten das Roma-Viertel an der Peripherie von Heves abschätzig Krakow, vielleicht weil sie die Zigeuner so wenig mochten wie die Polen. Ich hatte in Krakow eine Begegnung mit zornigen und wütenden Bewohnern erwartet, doch in Ferenc Konkolys schmuckloser Bierkneipe, in der eine Wandtapete mit herbstlichem Birkenwald so etwas wie Heimeligkeit verbreiten sollte, traf ich ausnahmslos wohlwollende Menschen. Ihre Freundlichkeit war ebenso groß wie ihre Sehnsucht nach einem gelungenen Leben. Sie erzählten ihre Version einer unheilvollen Geschichte, erwachsen aus Verzweiflung, naiver Ahnungslosigkeit und der Gleichgültigkeit der Behörden.
Weil die sozialistischen Staatsbetriebe längst bankrott waren und kein privater Arbeitgeber den Cigány aus Krakow einen Job gab, hatten sie sich Arbeit auf eigene Faust beschafft. Mit Pferdekarren und Lastwagen waren sie über Land getingelt, um auf Schrottplätzen und Autofriedhöfen ausrangierte Batterien zu sammeln. In primitiven, selbstfabrizierten Schmelzöfen verbrannten sie die Kunststoffe und glühten das Blei aus den Akkus. Keine der achtzig Bleikocherfamilien kam auf den Gedanken, sich vor den hochtoxischen Dämpfen zu schützen.
»Im Garten meines Nachbarn stapelten sich über tausend Autobatterien«, erzählt Gyuala Oláh. »Frag mich nicht, wie oft ich vor dem gefährlichen Zeug gewarnt habe. Immer und immer wieder.« Doch niemand hörte dem diplomierten Mechaniker zu. Bis die Kinder ihr Essen erbrachen und den Erwachsenen die Zähne ausfielen. Die knapp tausend Bewohner Krakows wurden zu einer Blutuntersuchung beordert. Fast zweihundert Kinder mussten in stationäre Behandlung und erhielten über Monate hinweg blutreinigende Infusionen. Auf Geheiß der ungarischen Regierung rückten Bulldozer an und trugen Tausende von Kubikmetern Erdreich ab. Der Boden von Krakow war völlig verseucht.
Mit seinen fünfunddreißig Jahren war Gyuala Oláh ein gebildeter, weltläufiger Mann. Lange hatte er in der Sowjetunion als Flugzeugmechaniker gearbeitet und legte, als würde ich ihm nicht glauben, eine Mappe mit Diplomen vor. In russischer Sprache. Nur nützten ihm die Zertifikate nichts mehr, denn nach Glasnost und Perestroika hatten die Russen keine Verwendung mehr für ihn, und auch in Ungarn waren sein Wissen und seine Arbeitskraft nicht gefragt. Auf viele qualifizierte Stellenangebote hatte er sich beworben, einige Male wurde er auch zu Vorstellungsterminen geladen. Doch Gyuala Oláh hat eine dunkle Haut. »Wenn ich durch die Tür eines Personalbüros komme, sehen die gleich, dass ich Zigeuner bin. Dann lächeln die Chefs und bedauern höflich, die Stelle sei leider schon vergeben.«
Dreißig Forint, nach heutigem Wert knappe zwanzig Cent, drückten die Schrotthändler den Bleikochern aus Heves für das Kilo des giftigen Schwermetalls in die Hand. Zu wenig zum Leben und genug zum Sterben – für die zweijährige Samanta Kállai. »Dauernd hatte die Kleine Schnupfen. Wir dachten, Samanta sei erkältet, aber dann aß sie nichts mehr und fiel ins Fieber«, erzählte ihr Großvater Menyhért. »Im Hospital konnten ihr die Ärzte nicht mehr helfen.«
Uralt schaute Menyhért Lólé aus, ausgezehrt und verbraucht, mit zerfurchtem Gesicht und dem welken Körper eines Greises, dabei zählte er gerade einmal neununddreißig Jahre. Nach dem Tod seiner Enkelin wusste er sich mit seinem Sohn Sándor nicht anders zu helfen, als zu einem schweren Hammer zu greifen. Damit kloppten sie kurzerhand die Hälfte ihres Hauses weg. »Wir haben die Ziegel verkauft«, erklärte uns Samantas Vater Sándor. »Mit dem Geld haben wir den Sarg und die Beerdigung bezahlt.«
Von Heves aus fuhr ich über die E 71 weiter Richtung Nordosten und passierte bei Tornyosnémeti die Grenze zwischen Ungarn und der Slowakei. Ich folgte einem Gerücht. Ganz in der Nähe sollten zwei Roma bei einem Industrieunglück ums Leben gekommen sein. Tatsächlich fiel in Velka Ida, einem Dorf unweit der slowakischen Stadt Kosice, auf einem unscheinbaren Friedhof eine
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