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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bauerdick Rolf
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Deutschland impfen zu lassen. Und weil ich nicht enden wollte wie die junge María Sierva, die in Gabriel GarcÍa Márquez’ Von der Liebe und anderen Dämonen nach dem Biss eines tollwütigen Hundes wegen einer vermeintlichen Besessenheit zu Tode exorziert wird, ließ ich mir Zuhause vorbeugend ein paar Spritzen mit einem Antiserum geben.
    Mit dem ersten Schneefall im Dezember kehrte ich nach Ungarn zurück, um Menschen zu treffen, von denen meine Begleiterin, die Journalistenkollegin und Dolmetscherin Viktória Mohácsi wusste, dass der freie Markt sie vom Prozess des Wirtschaftens ausschloss. Wir fuhren in Orte, deren Namen ich nie zuvor gehört hatte. Es hätten aber auch Hunderte anderer Ortschaften sein können, deren Namen zu behalten Mühe kostet, wenn man kein gebürtiger Ungar ist.
    Bitterkalt war es geworden, und ein beißender Schneesturm fegte über die öden Ebenen der Puszta. Irgendwo zwischen Törökszentmiklos und Püspökladány verließen wir die Europastraße 60 und erreichten Tiszabö, ein Dorf, das von Gott verlassen und von Menschen geleert schien. Bis auf einen buckligen Greis, der mit einem Bündel Reisig einsam gegen den schneidenden Wind ankämpfte. Unendlich langsam quälte er sich vorwärts, hielt kurz inne, hob die Hand zum Gruß und zeigte mir, dass meine Vorstellungen von Lebenszeit und Effizienz hier am Ufer der Theiß keinen Wert besaßen.
    Dreitausendfünfhundert Romungro-Zigeuner lebten in Tiszabö. Jahre nach dem Sieg der Freiheit dösten die Männer in der Dorfschenke auf kaputten Plastikstühlen vor sich hin. Sie wussten, dass sie die Schlacht um die Arbeitsplätze verloren hatten. Nur einer von zehn Männern aus Tiszabö stand in Lohn und Brot. Die anderen konnten sich nicht einmal betrinken, weil sie sich Bier und Schnaps nicht leisten konnten.
    »Ich weine dem Kommunismus keine Träne nach. Aber das Leben war damals leichter«, erklärte József Mága, ein zupackender Sechzigjähriger mit kräftigem Händedruck. »Früher haben wir alle gearbeitet. Ich habe Straßen gebaut, Schienenstränge verlegt und auf den Feldern geschuftet. Was nützen uns Demokratie und Freiheit, wenn niemand uns Arbeit gibt. Man schickt uns in einen Krieg. Wir sollen kämpfen. Ohne Gewehre und Patronen.«
    Ähnliches hatten auch ehemalige Kolchosearbeiter aus dem Städtchen Kalocsa behauptet. Die Gegend südöstlich des Plattensees ist berühmt für den Anbau von Paprika. Im Sozialismus waren drei von vier Roma in der Landwirtschaft beschäftigt, ungelernte Handarbeiter, die ihren Familien ein geregeltes Auskommen garantierten. »Mit den Forint, die wir verdienten, kamen wir über die Runden«, sagte Gabor Sztojka. Dann lösten die Gesetze des freien Marktes die planwirtschaftlich organisierte und subventionierte Agrarindustrie ab. Wie überall in Ungarn. Als das staatliche Paprika-Kombinat in Kalocsa mit seinen einst 2500 Arbeitern privatisiert und mit modernen Landmaschinen aufgerüstet wurde, saßen als erstes die Zigeuner auf der Straße. »Als Cigány musst du doppelt so hart arbeiten wie ein Weißer, um deinen Job zu behalten«, klagte Gabor. »Und beim geringsten Anlass fliegst du raus. Und dann stehst du vor der Tür des Arbeitsamtes. Einmal, zweimal. Vielleicht auch zehnmal. Irgendwann gehst du nicht mehr hin.«
    »Mein halbes Leben lang war ich Klempner«, meinte auch der Nachbar János Korsós. »Heute bin ich dreiundfünfzig. Da stellt dich niemand mehr ein, schon gar nicht mit einem X in der Personalakte.«
    Mit einem »X«?
    »Daran«, so raunte mir János zu, »erkennt ein Firmenchef sofort, dass du ein Zigeuner bist.«
    Mit kleinen, unscheinbaren Hinweisen in den Personalpapieren, erklärte Viktória Mohácsi, würden die Firmen bei Neueinstellungen viel Zeit sparen. »Weil sie dich als Zigeuner gar nicht erst zu einem Vorstellungsgespräch einladen.«
    Obschon Viktória mit zwanzig Jahren recht jung war, moderierte sie Mitte der neunziger Jahre das Cigány-Magazin im ungarischen Fernsehen. Durch ihre engagierten und entschieden parteilichen Reportagen war sie über Budapest hinaus bekannt und unter den 700 000 ungarischen Zigeunern sehr geachtet. Vitza, wie sie gerufen wurde, war eine der ihren, eine Romni vom Stamm der standesbewussten Olah-Zigeuner, kämpferisch und leidenschaftlich, aber auch kompromisslos und konfrontativ, Eigenarten, die sie später als Abgeordnete im Europaparlament in Brüssel weiter ausprägen sollte. Von dem mächtigen Wirbel, für den sie als Politikerin in

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