Zwischen den Zeilen
Zeit steckst.«
Schon etwas schwankend schraubte sich Nicki nun in die Höhe. Jägermeister und schottischer Whiskey waren wohl doch keine so harmlose Mischung, wie ich zuerst gedacht hatte.
»Mann, lass mich jetzt doch einfach hier bleiben. Du darfst mich dann dabei auch ruhig schlagen, wenn Dir danach ist? Aber lass mich jetzt hier bleiben. Du bist gut für mich. Ich spür’ das doch. Ich spür’ das doch, dass ich Dich jetzt endgültig verliere, wenn ich jetzt einfach so raus gehe. Was bin ich denn auch so blöd, und frag’ Dich aus! Was bin ich für ein dummes Arschloch! Komm lass es mich doch bitte einfach wieder gut machen? Jetzt gleich. Bitte! Darf ich?«
Bevor Nicki sich nun auch noch an mir festklammern konnte, schob ich ihn mit sanfter Gewalt zur Seite. Er stand nun auch nur noch ganz kurz davor, mit dem Weinen zu beginnen. Und zu meinem Leidwesen war nun also ganz offenkundig doch etwas von den Ereignissen an diesem für mich so absolut unrühmlich verlaufenden Nachmittag damals in Buchs Büro nach außen gedrungen. Offenbar hatten sich Nicki und Florian irgendwann doch einmal über mich ausgetauscht. Und hoffentlich nur diese beiden.
»Jetzt sag’ am besten einfach gar nichts mehr weiter und geh’ einfach wieder hoch, okay? Ich vergess’ dann auch ganz schnell, dass ein gewisser Teil unseres Gespräches von heute Nacht überhaupt so stattgefunden hat, okay?« sagte ich dann und strich Nicki dabei durch seine Haare. Aber da war mittlerweile gar nicht mehr viel, wodurch man hätte streichen können. Verdammte Kurzhaarfrisur, verdammte.
Einige Augenblicke starre Nicki noch mit einem gewissen Nebel in seinem Blick ins Leere, dann drehte er sich einfach um und spazierte durch die schon offene Türe hinaus. Und wir beide wussten, es war wohl auch besser so. Für ihn, für mich und natürlich ganz besonders auch für den Andi. Es war fast so, als hätte in dieser Nacht wirklich ein netter Engel schützend seine Flügel über den Südflügel dieses unwirtlichen Waschbetonbaus ausgebreitet.
Erst später merkte ich, dass Nicki offenbar so betrunken, so durcheinander oder vielleicht auch beides, in einer wie auch immer gewichteten Kombination, gewesen war, dass er seine Schuhe einfach bei mir im Flur hatte stehen lassen. Es hatte etwas, wie in einem allseits bekannten alten Märchen. Obwohl ich Märchen doch eigentlich gar nicht mochte.
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Für den Rest meines Praktikums durfte Nicolas nun also wieder kleiner Bruder spielen. Er schien sich sehr wohl in dieser Rolle zu fühlen. Offenbar brauchte er irgendwie doch immer noch dieses Gefühl, auch selbst geleitet zu werden, sich fallen lassen zu können. Obwohl es im Grunde für ihn mittlerweile überhaupt nicht mehr nötig war. Er war im vergangenen halben Jahr sehr viel stärker und auch stabiler geworden. Und genau das war auch das Problem. Ich konnte in Nicki nun allmählich wirklich nicht mehr nur meinen jüngeren rebellischen problembehafteten, sich ständig provokativ pubertär verhaltenden Bruder erkennen, bevor er unglücklich und viel zu früh mit gerade mal siebzehn von uns gegangen war. Nein, nun sah ich in Nicki, diejenige Person, zu der mein Bruder ein Jahr später hätte werden können, wenn er mit seinen Schwierigkeiten doch noch vielleicht auf die eine oder auch andere Weise klar gekommen wäre und überlebt hätte. Das war auf der einen Seite für mich natürlich sehr heilsam, tat aber gleichzeitig auch unheimlich weh. Ich denke, auch Nicki spürte das nur zu genau.
Wenn wir allein waren, gingen wir nun meistens draußen spazieren, schritten schweigend nebeneinander her. Die letzten Tage im Spätsommer. Es war auch gar nicht nötig, viel zu reden. Wir verstanden uns auch so und kommunizierten dabei so selbstverständlich und blind miteinander, wie wenn wir über fast zwei Jahrzehnte hindurch im selben Haus, in der selben Familie miteinander aufgewachsen gewesen wären und all die ganzen wunderbaren Jahre lang ins selbe Klo gepisst und geschissen, im selben Badezimmer geduscht, uns Tag für Tag am selben Waschbecken gewaschen und die Zähne geputzt und Woche für Woche unser vollgewichstes fleckiges Bettzeug immer in derselben Waschmaschine gewaschen hätten.
Im Internat ging nun alles seinen gewohnten Gang, wie in der Klosterzeit üblich. Die Elfer brachten ihrem Tutor das Essen, warteten bis er fertig war und räumten danach sogar auch noch ohne jedes Murren sein Tablett weg, sie trugen ihrem
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