Zwischen Tod und Ewigkeit
vor dem leeren Wasserbad einrastete. Und dann geschah etwas, das Mark unfähig machte, sich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu rühren.
Der Anführer stürzte sich mit erhobenem Messer auf den vereisten und nackten Körper des Menschen, der in der Wanne lag, und durchschnitt die Fesseln. Er hatte dabei einige Schwierigkeiten, und mehr als einmal glitt die Schneide ab und drang mit knirschendem Geräusch in das glasharte Fleisch des Opfers.
Mark wollte aufspringen, aber seine Glieder waren wie gelähmt. Die plötzliche Erkenntnis dessen, was sich da vor seinen Augen abspielte, verdammte ihn zur Unbeweglichkeit.
Das Opfer war ein Mann. Sie hoben ihn aus der Wanne, steif wie eine Marmorstatue und scheinbar tot. Der Anführer gab seinen Leuten einen Befehl, und dann packten sie den nackten Körper und hoben ihn aus der Wanne. Auf ihren Schultern trugen sie ihn aus der Halle und verschwanden im Halbdunkel des Ganges.
Mark blieb in seiner Deckung. Er fragte sich, ob er ein Feigling sei, aber dann begriff er, daß hier jede Hilfe zu spät käme. Wenn er überhaupt etwas tun konnte, dann war es nur die Vorsorge, daß sich ein Vorfall wie jener, der sich vor seinen Augen abgespielt hatte, nicht mehr wiederholen konnte.
Zwei Dutzend gewaltsam geöffneter Kammern gab es bereits.
Keine einzige durfte mehr dazukommen!
Die Geräusche der sich entfernenden Schritte wurde immer schwächer, bis sie schließlich verstummten. Niemand hatte die Tür geschlossen. Langsam entwich die Kälte aus der Kammer nach oben.
Ja, nach oben! Mark erkannte unmittelbar hinter der Tür die Stufen.
Er vergewisserte sich, daß seine Waffe noch entsichert war, dann erhob er sich langsam. Der Schreck saß ihm noch in den Gliedern. Die Wilden an und für sich waren unbegreiflich genug, aber daß sie auch noch Kannibalen waren, mußte erst von seinem Verstand verarbeitet werden.
Um die Gegenwart zu begreifen, mußte er die Vergangenheit kennen. Und die Vergangenheit lag in seinem Fach Nummer 275.
Zuerst ging er zu der geöffneten Kammer. In der Wanne lagen noch Haut- und Fleischfetzen, die allmählich auftauten. Er stemmte sich gegen das Bodenteil und schob die Wanne in das Verlies zurück. Den Deckel ließ er geöffnet, damit später jedes Mißverständnis vermieden wurde.
Auf dem Rückweg zu den Fächern blieb er vor den verschlossenen Türen stehen und sah durch die kleinen Fenster. Er konnte nicht viel sehen, denn in den einzelnen Kammern war es dunkel, aber er vermochte die reglosen Gestalten zu erkennen, die gefroren in den Wannen ruhten und auf ihren »Jüngsten Tag« warteten, so wie er darauf gewartet hatte.
In der Kammer Nummer 276 lag ein Mädchen.
Obwohl es dunkel war, erkannte er die Formen des schlanken, jungen Körpers. Die nackte Haut war mit einer dünnen Schicht von Reif bedeckt. Als seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatte, erkannte er auch ihr Gesicht. Es war ein hübsches, anziehendes Gesicht.
Mit Überwindung nur löste er sich von dem überraschenden Anblick, und für eine Sekunde nur war er glücklich darüber, daß die Kammer mit dem Mädchen in der dritten Reihe von unten lag. Die Kannibalen hatten bisher nur die unterste Reihe geplündert.
Als er vor seinem geschlossenen Fach stand, betrachtete er seine Daumenkuppe. Die Linien, so wußte er plötzlich, waren der Schlüssel zu dem Schloß, das nur er zu öffnen vermochte. Die Kannibalen hatten es vielleicht niemals versucht, und wahrscheinlich würde es ihnen auch nie gelingen. Er wunderte sich, daß es an den Gefrierkammern nicht ähnliche Sicherheitsmaßnahmen gab.
Er öffnete sein Fach, nahm das handbeschriebene Notizbuch heraus, schob es in die Tasche und schloß die Klappe wieder. Nun brauchte er nur noch einen bequemen Platz, um die Aufzeichnungen zu lesen.
Außerdem verspürte er Hunger.
Auf der gegenüberliegenden Seite gab es mehrere verschlossene Türen, die sich jedoch durch einen einfachen Druck auf einen eingelassenen Knopf öffnen ließen. Dahinter lagen verschieden eingerichtete Räume, deren unterschiedliche Zwecke für Mark offensichtlich waren. Für das Bad und die Toilette hatte jedoch er im Moment noch keine Verwendung.
Der Raum hinter der dritten Tür, die er öffnete, war genau das, was er suchte. Als erstes erblickte er entlang der rechten Seite einzelne Nischen, in denen Polstermöbel und Tische standen. Ihnen gegenüber war etwas, an das er sich dunkel erinnern konnte. Hinter Glasscheiben standen Fertigmahlzeiten,
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