Zwoelf Schritte
ans Essen: ein Wurstbrot, eine heiße Nudelsuppe und vielleicht ein gekochtes Ei. Aber am liebsten würde ich mit Iðunn auf dem Sofa in unserer alten Wohnung sitzen und kuscheln, wir würden die Suppe essen und uns Liebesworte ins Ohr flüstern. Ich würde sie immer gut behandeln und sie nie mehr enttäuschen. Ein plötzliches Brennen im Gesicht sagt mir, dass ich weine. Ich bin so einsam, habe mich angepinkelt, und die Schmerzen in den Schultern und Beinen und im Rücken sind schier unerträglich. In meiner Einsamkeit suchen mich Bilder von Iðunn heim: ihr enttäuschtes Gesicht, ihr liebevoll dreinblickendes Gesicht, noch einmal ihr enttäuschtes Gesicht. Dann sehe ich mich stockbesoffen auf dem Sofa sitzen, vor mir auf dem Tisch türmen sich Bierflaschen, jede einzelne eine Verkörperung meiner verpatzten Lebensträume.
Während ich lausche, wird mir allmählich klar, dass ich mir inzwischen fast wünsche, dass Geir zurückkäme, nur damit ich nicht mehr länger allein bin. Er ist der einzige Mensch, den ich erwarte, und deshalb kann nur er allein meine einsamen Qualen lindern.
Hilfe. Hilfe. Hilfe. Hilfe. Ich weiß nicht, ob ich um Hilfe bettele, weil ich gerettet werden will, oder ob ich eine göttliche Macht bitte, mich aus diesem Erdenleben zu erlösen. Damit ich hier nicht mehr gefesselt hängen, auf mein Leben zurückblicken und erkennen muss, wie schlecht ich es genutzt habe. Meine Gebete bestehen nicht mehr länger aus Gedanken oder Sätzen, sondern ich singe unaufhörlich dieses eine Wort vor mich hin, das ich mit den geschwollenen Lippen formen kann, und ich höre auch nicht auf, als mein Gesang längst nur noch ein Wimmern ist.
Plötzlich überkommt es mich. Ich weiß nicht, ob ich hyperventiliert und mich durch den monotonen Gesang in eine Art veränderten Bewusstseinszustand befördert habe oder ob das die ersten Anzeichen sind, dass das Leben langsam aus meinem Körper weicht. Meine kalten und steifen Glieder werden heiß, und das Blut fließt schneller, wie wenn die Sonne auf mich scheint. Aber meine Augen sind nach den Faustschlägen so trocken und geschwollen, dass ich sie nicht öffnen kann, um festzustellen, ob an diesem Gefühl etwas dran ist. Mein Herz schlägt schneller, und auf einmal fallen alle Sorgen von mir ab, und in meinem tiefsten Inneren weiß ich, egal was passiert, alles wird gut. Es macht mir nichts aus zu sterben, denn ich weiß, dass ich dann wieder bei Baldur sein werde. Ich nehme den Duft seines Köpfchens wahr und die Wärme des kleinen Körpers sickert durch meine Haut bis ins Herz und wärmt es, als ob ich ihn im Arm hielte. Plötzlich wird offensichtlich, dass mein Zorn über seinen Tod grundlos war. Sein kurzes Leben bescherte mir nicht nur das denkbar größte Unglück, sondern auch das größte Glück meines Lebens, und ich hätte diese eine Woche um keinen Preis missen wollen. Sein kurzes Leben hatte großen Einfluss, denn es lehrte mich eine Liebe, die größer war, als ich mir je hatte vorstellen können. Ich höre Schritte und Geirs Stimme irgendwo in meiner Nähe, aber die Worte erreichen mich nicht, und ich habe keine Angst mehr. Dieses plötzliche Wohlbefinden kann nichts anderes sein als die Gnade Gottes.
Ich schrecke etwas hoch, als mich ein kalter Luftzug trifft, aber als sich Mund und Nase mit Wasser füllen, wird mir klar, dass Geir mich mit einem Gartenschlauch abspritzt.
«Jetzt bist du schön brav und machst gefälligst weiter, schließlich hast du ja schon angefangen, zu beten und deine Demut im Leben zu erkennen.»
Er trägt einen Regenoverall, Gummistiefel und eine Haube auf dem Kopf, wie sie in der Fischfabrik benutzt werden. «Wenn du diese Stufe ohne Zwang erreicht hättest, hättest du es verdient zu leben, aber ohne mich hättest du es nie getan. Damit hast du selbst über dich das Urteil gefällt, weil du die Führung des Herrn nicht freiwillig angenommen hast.» Er spült mich mit dem starken Strahl gründlich ab, und dann höre ich ein metallisches Klirren. Er reinigt wahrscheinlich den Abfluss, um die Vernichtung sämtlichen Beweismaterials sicherzustellen.
Ich spüre einen schmerzhaften Stich am Schenkel und weiß, dass er mir jetzt die Überdosis Morphium verpasst, die zum Atemstillstand führt, aber irgendwie betrifft mich das nicht mehr. Ich denke an Baldur und das Gefühl, das damit verbunden ist, bei ihm zu sein, und bin zufrieden damit, aus dem Leben zu scheiden. Spüre noch einmal einen Schmerz im Schenkel und
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