Zwoelf Schritte
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Erstes Kapitel Ohnmacht
Die tiefstehende Februarsonne scheint mir direkt ins Gesicht, als ich auf den Parkplatz vor dem Haupteingang der Klinik trete. Auch wenn es in der Klinik hell ist, schmerzt die Umstellung beim ersten Schritt in das gleißende Winterlicht. Das ist nicht verwunderlich, denn zehn Tage lang habe ich nur durch eine schützende Front aus getöntem Fensterglas hinausgeblickt. Es kommt mir vor, als ob die Augen symptomatisch mein körperliches Befinden widerspiegeln. Die Welt hier draußen ist hart und reizt empfindliche Nerven: eine durchdringende Hupe auf der Straße, das Quietschen abgenutzter Bremsen, der beißende Frost und dieses aufdringliche Tageslicht, das die Konturen aller Dinge so scharf und die Luft so leicht und durchsichtig erscheinen lässt. Es ist ein unbehagliches Gefühl. Unangenehmer, als ich erwartet hatte, und ich spüre, wie sich eine Angst in meinem Magen breitmacht. Wie soll ich die realen Probleme des Lebens nüchtern bewältigen, wenn mich schon auf dem Parkplatz vor der Entzugsklinik Vogur solch eine starke Beklommenheit überfällt? Doch nach nur wenigen Minuten gewöhnen sich die Augen an das Tageslicht, und als sich der Knoten im Bauch aufzulösen beginnt, nimmt ein neues Gefühl überhand: die kribbelnde Vorfreude, was das neue Leben wohl mit sich bringen wird. Diese Vorfreude hat mich bereits heute Morgen erfasst, als sie mich anrief, um mir zu sagen, dass sie mich abholen wird. Obwohl ich mir aus Vernunft einrede, mir bloß keine falschen Hoffnungen zu machen, lässt mich die Frage nicht los, weshalb sie ausgerechnet jetzt den ersten Schritt unternimmt, nachdem sie mich ein halbes Jahr lang wie die Pest gemieden hat. Vielleicht ist es der Entzug – sie hat ja immer gesagt, dass unsere Ehe eine Zukunft hat, wenn ich bloß mit dieser Sauferei aufhöre. Das ist allerdings schon eine Weile her, und tief in meinem Inneren weiß ich, dass es zu spät ist und ich schon längst alle Chancen verspielt habe, die sie mir eingeräumt hat. Durch den Alkoholentzug ist mir vieles klargeworden, was ich vorher, von Bierrausch oder Katerstimmung benebelt, nicht erkannt habe. Zum Beispiel hatte ich immer das Gefühl, dass meine Frau mich nicht versteht. Ich dachte ständig, dass sie die Welt mit meinen Augen sehen und verstehen müsste, dass sie bei mir mit Beschimpfungen oder harten Forderungen nichts erreichte. Ich dachte, ich sei aufgrund meiner empfindlichen Seele auf mehr Liebe und Nachsicht angewiesen. Im Entzug, unter all den empfindlichen Seelen, die niemand verstehen wollte, erkannte ich schließlich, dass sie schon längst ihre ganze Gutmütigkeit und Liebe aufgebracht und ich ihr dafür nichts zurückgegeben hatte, abgesehen von den immer wiederkehrenden Enttäuschungen.
Während ich auf dem Parkplatz vor der Klinik auf sie warte, ziehen vor meinem inneren Auge Bilder aus unserer Ehe vorbei. Wir lernten uns in jungen Jahren auf einer Studentenfete an der Uni kennen. Sie war im zweiten Jahr ihres Jurastudiums, ich hatte gerade begonnen, Literaturwissenschaft zu studieren. Der Alkohol gab mir damals Mut, mich an die Mädchen heranzuwagen und selbstsicher aufzutreten. Sie lachten, weil sie mich witzig fanden, und bewunderten mein komisches Talent, das bis zum fünften Glas unterhaltsam war, dann aber mit jedem weiteren Drink wie die sonstigen Hirn- und Körperfunktionen zusehends nachließ. Unsere Beziehung begann damit, dass Iðunn mich auf dem Nachhauseweg stützte und mich ins Bett verfrachtete, wo ich, betrunken wie ich war, sofort einschlief. Als ich am nächsten Morgen völlig verkatert und zitternd erwachte, lagen wir beide angezogen nebeneinander, und sie war so unendlich schön und unschuldig mit ihrem dunklen, zerzausten Haar und ihrer bis auf die Wangen verschmierten Schminke. Ich stand leise auf, duschte, nahm ein paar Schmerztabletten und erwachte allmählich zum Leben. Dann braute ich starken Kaffee, toastete Brotscheiben und brachte ihr das Frühstück ans Bett. Wir lagen den ganzen Tag plaudernd im Bett und liebten uns den ganzen Nachmittag so leidenschaftlich, wie ich es bisher noch nicht erlebt hatte. Bald schon verbrachte sie fast jede Nacht bei mir, und innerhalb von zwei Monaten zogen wir zusammen. Die ersten Wochen unseres Zusammenlebens waren wie ein Glückstaumel – vermischt mit dem schlechten Gewissen, dass ich das Studium vernachlässigte. Nach und nach löste sich das Gefühl wegen der Alltagsprobleme in nichts auf.
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