Zwölfender
neue Taschenlampe mit.
Wie immer, wenn ich mit dem Flugzeug oder mit der Bahn verreise, hatte ich einen Platz am Gang reserviert.
Neben mir, am Fenster, saß ein Mann von etwa dreißig Jahren. Zunächst nahm ich nur wahr, dass er strohblondes Haar hatte. Dann bemerkte ich, dass er in ein Buch mit Hieroglyphen vertieft war. Gelegentlich tippte er etwas in den aufgeklappten Rechner vor ihm. Seine Bewegungen erschienen mir eigentümlich gesteuert und auffallend langsam.
Irgendwann legte er sein Buch beiseite, drehte sich zu mir um und sah mich restversunken an wie jemand, der gerade aufgewacht ist.
»Guten Abend«, sagte er.
Wir kamen ins Gespräch.
Robert litt seit seiner Geburt an einer Muskelschwäche. Seine Sprache war verzögert wie seine Bewegungen, aber die Schnelligkeit, mit der er dachte, sein Witz und seine Aufgeschlossenheit hielten unerschrocken dagegen.
Er erzählte mir von seiner Dissertation, von seiner Freundin Fanny, seiner Familie und seinen Reisen. Ich berichtete ihm von meiner Arbeit, von Aaron und von meinem Bedürfnis, nur noch das Notwendigste zu besitzen.
Robert war Anthropologe und Dozent an der Universität von Cleveland. Seine Eltern lebten in Wiesbaden, er hatte sie gerade besucht.
Jetzt war er auf dem Weg zu einem Forschungsprojekt in Kolumbien, gönnte sich aber zuvor einen Aufenthalt in Santiago, um, wie er sich ausdrückte, nicht nur in der Vergangenheit zu graben.
Wenn ich heute an diese ersten Gespräche zurückdenke, möchte ich mich schützend davorstellen. Ich wünschte, ich könnte … ach.
Als wir zum Zwischenstopp in São Paulo aus dem Flugzeug stiegen, wusste ich längst, dass Robert zu jener seltenen Sorte Menschen gehörte, mit denen man im Notfall gern das Rettungsboot teilt.
Wir stiefelten durch das Flughafengebäude, schauten die Auslagen in den Geschäften an und blätterten gemeinsam in Zeitschriften.
An einer Espressobar sitzend, wies ich ihn darauf hin, dass sein Hemd schief geknöpft sei.
»Ist mir auch schon aufgefallen«, entgegnete er und blickte an sich herunter. »Aber dann dachte ich: Symmetrie ist was für Simpel.«
Wie ich hatte auch Robert die Reise nur unzureichend geplant.
Als wir in Santiago landeten, stellte sich uns beiden die Frage, wo unterkommen.
Wir beschlossen, gemeinsam auf Hotelsuche zu gehen, nahmen ein Taxi und baten den Fahrer um eine Empfehlung.
Robert sprach exzellent Spanisch, sodass ich mich zurücklehnen und schweigen konnte. Die Details waren mir einerlei. Ich wollte in Santiago sein, irgendwie – und von dort aus weiterreisen.
Der Fahrer brachte uns quer durch die frühmorgendlichen Vororte zum Haus seiner Tante und klingelte, immer wieder beteuernd, dass dies eine der schönsten Pensionen Santiagos sei.
Eine ältere Frau öffnete uns, sie wirkte verschlafen und ungehalten.
Nach einem kurzen Disput mit ihrem Neffen aber wies sie uns freundlich an, einzutreten und auf einer kleinen Bank im Flur Platz zu nehmen.
Wir bezahlten den Fahrer, dankten ihm und taten, wie uns geheißen.
Die Dame des Hauses stellte sich vor uns auf und betrachtete uns eingehend. Dann sagte sie: »Ich werde euch ein Zimmer fertigmachen und nachschauen, was ich im Kühlschrank finde.«
»Wie heißen Sie?«, fragte Robert.
»Rosa«, antwortete sie.
Auch wir stellten uns vor.
»Seit wann seid ihr unterwegs?«, erkundigte sie sich.
Robert zuckte die Schultern. »Eine halbe Ewigkeit.«
Sie nickte, dann drehte sie sich um, lief in den hinteren Teil des gefliesten Entrees, öffnete einen Schrank und stieg, einen Packen Wäsche in den Armen, eine schmale Treppe hinauf.
Robert und ich hörten sie seufzen und mit sich selber sprechen wie jemand, der in dem Bewusstsein lebt, niemandem einen Gefallen ausschlagen zu können.
Ich fühlte mich gut aufgehoben und war froh, Robert bei mir zu haben. Ich nahm seine Hand und drückte sie sacht.
Wir warteten.
Rosa kam wieder herunter ins Erdgeschoss, öffnete Schubladen, hantierte in der von unserer Bank aus nicht einsehbaren Küche mit Geschirr, setzte hörbar einen Topf auf den Herd und rief irgendetwas zu uns herüber.
Die Küche war geräumig. An der Wand über dem Herd baumelte allerlei Kochgerät, und über dem großen Holztisch in der Mitte des Raumes hing eine Lampe, die den Essplatz in warmes Licht tauchte.
Rosa hatte uns zwei Schalen und Gläser, einen Glaskrug mit Wasser und einen mit Rotwein bereitgestellt.
»Rind und Reis«, sagte sie, während sie das
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