01 - Botschaft aus Stein
Wurzelgeflecht entstehen lassen.
Tom arbeitete, ohne innezuhalten. Seine Vermutung war absurd. Nicht verrückter jedoch als die Maya-Toteneule in der Höhle im unwegsamen Inneren der Insel, mehr als sechstausend Kilometer von Mittelamerika entfernt.
Mit beiden Händen zerrte er den letzten Rest des Bewuchses zur Seite. Unmittelbar am Stein wollte er nicht mehr mit der Machete hantieren. Nur widerstrebend gaben die verfilzten Wurzeln nach. Ericson riss ihr dichtes Geflecht auseinander wie ein Stück alten Stoff. Er hielt erst inne, als ihm ein halbrund aus dem Steinblock herausgeschlagenes stilisiertes Gesicht entgegensah.
Ein Chacmool, eine der liegenden Skulpturen, deren Verbreitungsgebiet sich von Veracruz bis El Salvador und von Chichén Itzá bis Tula erstreckt hatte. Typisch waren die rückwärts liegende, auf den Ellenbogen abgestützte Haltung der Figur, das zur Seite gewendete Gesicht mit den kantigen Ohrblöcken und das auf dem Bauch gehaltene Gefäß: ein Opferstein für Kultgaben oder Menschenopfer.
Hier aber war es eine Eule, die der Liegende in Händen hielt! Und sie ähnelte frappant jener in der Höhle. Und genau dort lag auch die Quelle von Toms Verdacht.
Er zog die Kladde des toten Kollegen hervor und blätterte behutsam darin herum. Da! Er hatte sich nicht getäuscht: Das war eindeutig die Skizze genau dieses Chacmools! Müller war also hier gewesen, vor fünfzehn Jahren.
Tom wischte die letzten Humusbrocken und Wurzelreste aus dem Gesicht der Statue. Der Mund war nur als schmaler, geradliniger Schlitz in den Stein eingemeißelt. Schon die wuchtige Hakennase deutete eine markante Persönlichkeit an, aber die Augen der Figur waren das hervorstechende Merkmal.
Tom kannte nicht allzu viele Chacmool-Figuren, deren Augen mit Muschelschalen inkrustiert worden waren. Eine davon stand in Chichén Itzá.
Diese Figur gehörte eindeutig zur Maya-Kultur.
Aber die Maya waren nie Seefahrer gewesen. Im küstennahen Bereich waren sie bis zur Nordküste Yucatáns vorgestoßen; größere Entfernungen, vor allem auf hoher See, hätten ihre Schiffe nie bewältigen können. Die großen Flüsse wie der Río Ulúa, der Belize River und der Rio Hondo waren die eigentliche Lebensader gewesen.
»Wie zum Teufel bist du hierher gelangt?« Tom löste den letzten Bewuchs auf der Oberseite der Statue und legte die angewinkelten Knie frei.
Sein Blick folgte dem Verlauf des dicht bewachsenen Geländeeinschnitts. Höchstens einen Kilometer entfernt, schätzte er, lag die zweite Position. Dass der Chacmool auf einer kleinen Anhöhe stand, wurde ihm erst jetzt richtig bewusst, und ebenso, dass die Hänge hier nahe zusammentraten. Der Baumbestand kaschierte diesen Umstand. Wenn er versuchte, sich nur den Geländeverlauf vorzustellen, dann gewann er den Eindruck einer leichten Passhöhe.
Du hältst Wache, um ungebetene Besucher fernzuhalten?
Was in Müllers Fall ja mit tödlicher Sicherheit funktioniert hatte… Tom lief ein leiser Schauer über den Rücken.
Er versuchte im Bereich der zweiten Position eine Auffälligkeit im Dickicht zu erkennen. Doch überall war nur dichtes Grün, ein nahezu in Reglosigkeit erstarrtes Pflanzenmeer.
Ericson nutzte wieder die Fotofunktion seines Satellitentelefons. Drei Bilder, die vor allem das Umfeld mit einbezogen. Glaubwürdig waren solche Aufnahmen ohnehin nicht. Ein Student im Erstsemester hatte ihm vor Jahren eine Fotoserie mit eigenen Bildmanipulationen vorgelegt, die die Antike völlig auf den Kopf stellten. Wenn er daran zurückdachte, sah Tom immer noch das Grinsen des Studenten vor sich. Er hatte ihm mit Nachdruck empfohlen, sich für ein Informatikstudium einzuschreiben, aber weiß Gott nicht für Archäologie.
Tom schob das Telefon in die Westentasche zurück und musterte die Eule, die der Chacmool hielt. Sie gehörte nicht in die Hände der Figur, genauso wenig wie die Statue selbst hier in die Südsee.
Handelte es sich vielleicht ebenfalls um ein Fake?
Aber nein, die Statue war echt, ein besonderes Stück zudem. Damit in die Fachmedien zu gehen, würde für großes Aufsehen sorgen. Aber wollte er das?
Ericson griff nach der Plastikwasserflasche. Bedächtig nahm er einen ersten Schluck und hielt das schon schal schmeckende Wasser einige Atemzüge lang im Mund, bevor er es hinunterschluckte.
Noch einmal trank er, ebenso langsam und nachdenklich, dann fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Ich muss erst die Hintergründe wissen«, sagte er leise. »Du
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