0509 - Der Würger auf dem Schienenstrang
Kraft, Plakattafeln auszureißen und bis zum Schienenst i ang zu schleppen. Aus den oberen Klassen einer High School werden sie wahrscheinlich auch nicht sein, denn die sind alt genug, um die Gefahr solcher unsinniger Handlungen einzusehen. Also irgendwo in den mittleren Jahrringen. Zwischen zehn und vierzehn vielleicht.
Das hatte sich der Streckenwärter Michael Edwards überlegt, Während er an diesem Vormittag westwärts stapfte. Er war das Abgehen von Eisenbahnstrecken so gewöhnt, daß seine Füße automatisch Schritte machten, die genau dem Abstand der Schwellen entsprachen. Als er anfing, hatte ihm das Schwierigkeiten gemacht. Für seine Körpergröße lagen die Schwellen zu dicht beieinander, aber wenn er jeweils eine übersprang, wurde der Abstand zu groß. Jetzt traten seine Beine wie bei einer genau eingestellten Maschine von ganz allein die richtige Entfernung ab, so daß er seine Aufmerksamkeit ganz auf das Gebüsch am Rande des Bahndammes konzentrieren konnte. Bis zur Mittagszeit wollte er eine bestimmte Brücke erreicht haben, wo eine Straße über die Eisenbahnlinie hinwegführte. Er hatte herausgefunden, daß nur eine halbe Meile von dieser Brücke entfernt eine Schule lag, und er wollte sich während der Mittagszeit dort in der Nähe verstecken.
Das Gelände neben der Bahnlinie wechselte in seinem Charakter. Stellenweise reichten die Häuserreihen bis dicht an den Bahndamm heran, dann wieder gab es eine Strecke lang Ödland mit Gestrüpp, Ginster und niedrigem Gebüsch.
Edwards hatte gewohnheitsmäßig einen Blick auf das Signal geworfen, das 200 Yard von der Brücke entfernt stand, und danach die Schienen der beiden Nachbargleise überquert, weil es auf der linken Seite des Bahndamms eine lange Strauchgruppe gab. Sie wuchs auf der halben Höhe des Dammes. Dahinter erstreckte sich ein etwas vernachlässigt wirkender Sportplatz von irgendeinem Vorortverein. Es gab eine Aschenbahn, eine Sprunggrube und ein Baseballfeld. Michael Edwards ließ seinen Blick über den öden Platz gleiten, bevor er sich dem Gesträuch zuwandte. Plötzlich stutzte er. Unwillkürlich machte er ein paar Schritte den Bahndamm hinab, bis er stehenblieb und überlegte.
Aus dem verfilzten Unterholz ragte eine Hand heraus. Eine kleine offensichtlich weibliche Hand. Die Finger waren halb gekrümmt, und im Sonnenlicht konnte man einen Ring glitzern sehen.
Vielleicht hat sich ein Liebespärchen da drin verkrochen, und sie merkt gar nicht, daß ihre Hand herausragt, dachte Edwards, während er sich seine abgenagte Pfeife zwischen die Zähne schob. Er räusperte sich laut, aber die Hand gab nicht durch ein leisestes Zucken zu erkennen, daß man ihn gehört hatte. Edwards war kein Mann, der seine Nase aufdringlich in anderer Leute Angelegenheiten steckte, aber er gehörte auch nicht zu denen, die an allem vorübergehen, um nur ja in nichts hineingezogen zu werden. Hier freilich wußte er nicht, was er tun sollte. Wenn er in das Gestrüpp einbrach, konnte es eine peinliche Szene geben. Andererseits irritierte ihn die reglos liegende Hand mit dem glitzernden Ring.
Ich werde erst einmal ein bißchen näher gehen, beschloß er und fing an, laut zu pfeifen, damit man ihn auch hören konnte. Aber die leicht gekrümmten Finger rührten und regten sich nicht. Schließlich stand er dicht davor, bückte sich endlich gar und besah sich die zierlichen schlanken Mädchenfinger aus der Nähe. Mit seinem Gesicht ging eine Veränderung vor. Die Wangenmuskeln traten deutlicher hervor. Er stopfte hastig seine kurze Pfeife in die Brusttasche, richtete sich wieder auf und atmete tief. Dann zerrte er entschlossen das dornige Gezweig des Gestrüpps auseinander, machte einen Schritt vorwärts und blieb so jäh stehen, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen.
Edwards war Soldat im Zweiten Weltkrieg gewesen. Er hatte zu den ersten gehört, die über der Normandie abgesprungen und in das höllische Abwehrfeuer der Deutschen buchstäblich hineingeregnet waren. An Straßen- und Nahkämpfen hatte er so oft teilnehmen müssen, daß er sich damals sagen durfte, schlimmer könne es in seinem ganzen Leben nicht mehr kommen.
Aber offenbar hatte er sich damals getäuscht. Das hier war schlimmer. Das, das war schlichtweg unbeschreiblich. Eine Weile stand er wie gelähmt, dann machte er mit fahrigen Bewegungen kehrt, spürte die Dornen nicht, die blutige Kratzer in seine Hände rissen, und stapfte den Bahndamm eilig wieder hinan. Er lief zwischen den
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