0969 - Mandragoros Geschöpf
zog Marion ihre Schultern zusammen, wie jemand, der plötzlich anfängt zu frieren. Zwar schaute sie Melvin noch an, aber ihr Blick war ins Leere oder in eine kaum zu beschreibende Weite gerichtet. Sie kämpfte mit der Erinnerung, in der noch etwas verborgen war, was sie bisher nicht gesagt hatte. Die Zungenspitze fuhr über ihre Lippen hinweg, und dann fing sie an zu reden. »Da waren die Hände des Mannes, Dad. Ich habe sie genau gespürt, Sie - sie umfaßten mich. Aber sie waren nicht normal, sie waren ganz anders. So lang und so knotig. Fast wie Bänder. Aber sie hatten Kraft. Ich wurde aus dem Sumpf gezogen.«
Melvin Kline schwieg. Er hatte seine Lippen fest zusammengepreßt, und er erinnerte sich wieder daran, wie er auf der Bank gesessen und den Mann mit den kalten Augen angestarrt hatte.
Es waren nicht nur die Augen gewesen, die ihn so beeindruckt hatten. Er erinnerte sich deutlich daran, wie er auf die Hände des Fremden gestarrt hatte.
Knotige, wurzelartige Finger. Überhaupt nicht mit normalen Menschenhänden zu vergleichen. Diese hier waren schlimm gewesen. So lang und auch viel spitzer.
»Ist was, Dad?«
Kline erschrak. »Nein, es ist nichts. Ich habe mich nur gefreut, daß du gerettet worden bist.«
»Ja, das bin ich. Aber ich sehe den Mann immer noch. Wenn ich die Augen zumache, kommt er zurück, und auch wenn ich kurz vor dem Einschlafen bin.«
Melvin Kline schwieg. Unruhe tobte in seinem Innern. Er dachte wieder an das Versprechen dieses Cursano, daß er Marion und auch die anderen Mitglieder der Familie nicht vergessen würde. So wie dieser Mann aussah, würde er sein Versprechen auf jeden Fall wahrmachen. Kline wußte, daß seine Tochter Trost brauchte, und er sagte: »Aber jetzt ist alles vorbei, denke ich. Oder?«
»Du bist ja bei mir, Dad.«
»Genau, Liebes. Und wenn ich mal nicht hier bin, dann paßt deine Mutter auf dich auf.«
Sie lächelte plötzlich. »Ja, Daddy, ja…« Dann schloß sie die Augen, umfaßte ihre Puppe und kuschelte sich in das weiche Oberbett hinein. Ihr kleiner Mund war zu einem Lächeln verzogen, und mit diesem glücklichen Ausdruck auf dem Gesicht schlief sie bald ein.
Einige Minuten blieb Melvin noch wie ein Schutzengel neben seiner Tochter sitzen. Sein Gesicht war sehr ernst geworden. Natürlich freute er sich darüber, daß dieser unheimliche Fremde seine Tochter gerettet hatte. Aber er dachte auch an dessen Worte, denn Cursano war ein Mann, der einfach nicht vergaß.
Er würde Marion nicht vergessen. Irgendwo mußte er ein Band gelegt haben, das ihn und Marion zusammenhielt. Ein verrückter Gedanke durchzuckte den Kopf des Mannes.
Er fragte sich plötzlich, ob Marion noch ihm und seiner Frau gehörte oder nicht längst schon unter dem Bann einer anderen Person stand.
Das wäre fatal gewesen. Er wollte auch nicht näher darüber nachdenken, sonst wurde er noch verrückt.
Bevor er aufstand, um den Raum zu verlassen, schaltete er die Nachttischleuchte mit dem bunten Schirm ein. Er dämpfte das Licht auf ein erträgliches Maß.
An der Tür drehte sich Melvin Kline noch einmal um.
Seine Tochter schlief. Sie lächelte dabei. Keine bösen Träume mehr. So sollte es immer bleiben, das wünschte er Marion, aber er wußte auch, daß er sich irren konnte.
Die Zimmertür schloß er nicht ganz, er lehnte sie nur an. Er ging durch den stillen Flur in das ebenfalls stille und kleine Wohnzimmer, das zugleich auch als Schlafzimmer diente. Seine Frau Emmy hatte die Couch bereits ausgezogen, aber Melvin wollte sich noch nicht hinlegen, denn er war innerlich zu erregt.
Er öffnete die Tür eines Boards, das an der Wand hing, und holte eine braune Flasche und ein Glas hervor. In der Flasche befand sich Brandy.
Er goß das Glas zur Hälfte voll, trank zwei Schlucke und stellte sich dann an das Fenster.
Draußen war es dunkel. Noch lebten sie in einer gewissen Einsamkeit oder einer Idylle. Auch das würde sich ändern. Nicht weit entfernt und noch in Sichtweite des Hauses hatte eine Baufirma Grund aufgekauft, um dort eine Wohnanlage zu errichten. Dann war es mit der Ruhe vorbei, das wußten auch die Klines.
Die Nacht verbarg vieles. Das Gute und auch natürlich das Böse. Daran blieben seine Gedanken hängen. Das Böse war überall, auch wenn es sich nicht zeigte. Es war einfach da. Es gehörte zur Welt und zum Leben wie der Tag und die Nacht. Man brauchte kein Philosoph zu sein, um das zu wissen. Melvin hatte selten darüber nachgedacht. An diesem Abend und nach der
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