0973 - Der verhexte Blutwald
gemocht, und sie wußte auch, daß es zwischen ihnen mehr gab, als auf den ersten Blick zu vermuten war.
Für sie war es der Märchenwald. Mal wunderbar und geheimnisvoll verwunschen, mal düster, gefährlich und tödlich. Es kam einfach darauf an, wie man zu ihm stand.
Auch in diesem Jahr hatte sich der Sommer mit hohen Temperaturen in Erinnerung gebracht. Greta mochte die heißen Tage, und ein Ende der Hitze war noch nicht abzusehen. Während der hohen Temperaturen hielt sie sich zumeist im Haus auf. Erst wenn der kühle Abend den Tag ablöste, begab sie sich auf die Veranda, um den Wechsel zu erleben, der jedesmal gleich war, von ihr jedoch immer wieder anders aufgenommen wurde.
Mit dem Rollstuhl fuhr sie dann durch die entsprechend breite Tür atof die Veranda, wo ein Tisch stand, zusammen mit zwei Korbstühlen, wo das alte Holz der Balken hin und wieder knarrte, als wollte es mit seiner »Stimme« irgendwelche Geschichten aus der Vergangenheit erzählen.
An die Vergangenheit dachte Greta oft.
Eigentlich nicht natürlich für einen jungen Menschen. Nur kam sie darüber nicht hinweg. Bilder entstanden vor ihren Augen. Das Erlebnis, das nun zwei Jahre zurücklag, hatte sie schon geprägt, aber sie nahm es gelassen hin, denn sie wußte, daß es noch den Wechsel zwischen Tag und Nacht gab. Eine besondere Zeit, in der sich die Natur öffnete und die Grenzen fließend wurden.
Da passierte dann das, was nur wenige Menschen wahrnahmen. Da zeigte die Natur ihr zweites Gesicht. Als Mensch mußte man schon eine gewisse Einstellung und einen entsprechenden Blick dafür haben, um überhaupt erkennen und sehen zu können.
Greta Kinny gehörte zu diesen Menschen. Mit großer Freude wartete sie immer wieder auf den Wechsel. Für sie tauchte die normale Realität ab, sie konnte tief durchatmen, in ihre zweite Haut schlüpfen und ein wunderschönes Leben in dieser Nacht verbringen.
Es war still auf der Veranda. Es war sowieso still im Haus und in dessen unmittelbarer Umgebung. Die Natur wollte nicht, daß sie durch Menschenhand gestört würde, und seltsamerweise hielten sich die meisten Menschen auch daran.
So bekam Greta Kinny nur selten Besuch. Und wenn jemand zu ihr kam, dann hatte sie ihn auch gerufen oder eingeladen.
Sie lebte allein in den Räumen. Die oberen waren seit ihrer Lähmung für sie tabu. Dennoch wurden sie gesäubert und auch mal benutzt. Dafür sorgte Ginette, ihre Freundin und Haushälterin. Sie war tagsüber bei ihr und wäre auch in der Nacht geblieben, aber das war nicht nötig. Greta kam für ein paar Stunden allein zurecht. Sie hatte es immer wieder betont, und Ginette hatte es letztendlich akzeptiert.
Ein kühler Wind fuhr unter das leicht nach vorn abgeschrägte Dach der Veranda. Er streichelte auch Gesicht und Körper der Frau, die unbeweglich in ihrem Rollstuhl saß, die Augen schloß, den Wind genoß und sich ansonsten ihrer Erinnerung hingab, die sie zumeist nur zwei Jahre zurückführte, wo das Schicksal zugeschlagen und ihr Leben in eine andere Bahn gelenkt hatte.
An ihre Eltern dachte sie nicht. Beide waren nicht mehr da, und sie wußte nicht mal, ob sie noch lebten. Sie hatten ihr das Haus hinterlassen und zum Glück auch genügend Geld, so daß sie über viele Jahre hinweg versorgt war, vorausgesetzt, sie führte nicht gerade ein Leben im absoluten Luxus. Damit allerdings hatte sie nichts am Hut. Was sie brauchte, das bekam sie, und mehr als satt werden konnte sie nicht.
Noch war es nicht ganz still. Hinter ihr im Haus arbeitete noch Ginette.
Sie spülte das Geschirr des letzten Mahls weg. Es hatte frischen Spargel und Salat gegeben. Obwohl Ginette erst dreißig war, konnte sie schon hervorragend kochen. Sie war eine Naturbegabung, denn gelernt hatte sie den Beruf wahrlich nicht.
Greta hörte sie kommen und lächelte. Nach ihrer Lähmung war zwar nicht gerade ein Wunder geschehen, doch auf der einen Seite hatte sie auch etwas Gutes gehabt. Es gelang Greta viel stärker als früher, sich auf gewisse Dinge zu konzentrieren und diese auch zu hören. Früher hätte sie das nie geschafft, aber ihr Gehör und das optische Wahrnehmungsvermögen hatten sich stabilisiert, sogar verbessert. Sie nahm Geräusche, Gerüche und Empfindungen auf, an die sie vor Jahren nicht mal gedacht hatte. Sehr deutlich hörten sie das Piepen oder das Trappeln der kleinen Waldmäuse in ihrer Umgebung. Sie nahm wahr, wenn die Vögel heftiger mit ihren Flügeln schlugen, und manchmal drangen auch die
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