Leuchtende Sonne weites Land - Roman
Prolog
Atlanta, Georgia
Januar 1946
»Polizei! Machen Sie auf, Mr. Gordon-Smith!«, befahl eine energische Männerstimme, die den Lärm auf der Straße übertönte.
Heftig wurde gegen die Tür gehämmert. Margaret, Lionel und ihre beiden Kinder konnten die aufgebrachte Menge hören, die sich in der Dunkelheit vor dem weißen Lattenzaun versammelt hatte, der den gepflegten Garten umgab. Die Nachbarn in diesem überwiegend von Weißen bewohnten, gutbürgerlichen und sonst so ruhigen Vorort von Atlanta waren vermutlich genauso erschrocken über den Aufruhr da draußen wie Lionel und seine Familie, denen die Anfeindungen des Pöbels galten.
Begonnen hatte alles zwei Tage zuvor nach dem tragischen Tod der siebenjährigen Valmae Brown. Inzwischen hatte sich die Lage derart zugespitzt, dass die Familie um ihr Leben fürchten musste und sich nicht mehr aus dem Haus wagte.
Lionel spähte vorsichtig durch die Spitzengardinen des Fensters neben der Haustür. Im schwachen Lichtschein konnte er zwei uniformierte Männer auf der Veranda erkennen. Hinter ihnen, auf der Straße, sah er zornige Gesichter im Schein einiger Fackeln.
»Es ist wirklich die Polizei«, sagte er mit einem Blick auf das verängstigte Gesicht seiner Frau. »Ich lasse sie besser herein.«
»Warte! Bist du auch ganz sicher?«, flüsterte Margaret angespannt. Sie sorgte sich vor allem um ihre beiden Kinder, die sie auf ihr Zimmer geschickt hatte, wo sie zwischen den geschlossenen Vorhängen hindurch auf die Straße hinauslugten.
Die dreizehnjährige Jacqueline war ungewöhnlich vernünftigund pragmatisch für ihr Alter, während Mitchell, ihr achtjähriger Bruder, ein rechter Wildfang war. Die Geschwister standen einander sehr nahe. Jacqueline, die sich nicht erklären konnte, warum sich die aufgebrachten Schwarzen da draußen versammelt hatten, war starr vor Angst, aber sie versuchte, sich ihrem Bruder zuliebe nichts anmerken zu lassen.
»Von denen droht uns bestimmt keine Gefahr«, sagte Lionel nach einem weiteren prüfenden Blick aus dem Fenster.
Jetzt erst sah er, dass die beiden Polizisten keine Unbekannten waren. Er wusste, sie waren wegen Margaret gekommen. Sosehr ihn der Gedanke auch beunruhigte, dass sie sie festnehmen könnten – im Augenblick wäre sie im Gefängnis vermutlich sicherer als zu Hause.
Lionel schob den Riegel zurück, ließ die Beamten herein, schloss die Tür schnell wieder und verriegelte sie erneut. Er hatte Sergeant Riley und den jungen Officer Jellicoe bereits zwei Tage zuvor kennen gelernt, als sie Margaret wegen Valmae vernommen hatten.
»Warum unternehmen Sie nichts gegen den Pöbel da draußen?«, fragte Lionel ungehalten. Er konnte seinen Zorn kaum unterdrücken.
»Meine Männer versuchen, die Leute zu zerstreuen, Sir«, erwiderte Sergeant Riley entschuldigend und mit einem Seitenblick auf Margaret. »Ich habe angeordnet, dass die Rädelsführer festgenommen werden. Ich schätze, dann werden die anderen nach Hause gehen.«
In Wirklichkeit hielt er die Lage für so ernst, dass er Verstärkung von einem anderen Revier angefordert hatte. In den amerikanischen Südstaaten waren die als »Jim Crow« bekannten Gesetze zur Einhaltung der Rassentrennung, mit denen eine Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung einherging, immer noch in Kraft, auch wenn sich allmählich ein Wandel bemerkbar machte. Da im Süden die Arbeitslosigkeit unter den Schwarzen sehr hoch war, hatten sich während des Zweiten Weltkriegs viele freiwillig zumMilitär gemeldet. Sie waren mit Handkuss genommen worden, sodass sich die Regierung jetzt gezwungen sah, ihre scheinheilige Haltung aufzugeben: Man konnte die Schwarzen nicht länger als Bürger zweiter Klasse behandeln.
Aber unter den Weißen gab es Gruppierungen, die sich vehement gegen den Wandel sträubten und an der alten Ordnung festhalten wollten. Nachdem in der Gegend unlängst zwei Morde verübt worden waren, hatten sich die Spannungen zwischen Schwarz und Weiß verschärft. Die Schwarzen forderten Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht. Und Valmaes Tod war in ihren Augen ein Unrecht von ungeheuren Ausmaßen. Ein weiterer Mord. Obwohl alle »Beweise« Margaret entlasteten, verlangten die Schwarzen, dass sie ins Gefängnis gesteckt wurde.
Lionel konnte es nicht fassen, dass die Polizei offenbar nicht imstande war, mehr für ihn und seine Familie zu tun. Er hätte seinem Unmut gern Luft gemacht, beherrschte sich aber, um seine Frau nicht noch mehr zu beunruhigen. In ohnmächtigem
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