1001 Nachtschichten
doch nicht in die Tasche! Seit Jahren kriegen wir beide weder zum neuen Jahr noch zum Zucker- oder Opferfest, geschweige denn zum Geburtstag einen Brief – nicht mal eine billige Karte! Kein Mensch will von uns was wissen!«
»Armer Ossi, aber wie gesagt, Tote kriegen selten Post. Ich bekomme nicht nur zum Geburtstag und zu Neujahr, sondern sogar zu Ostern, zu Pfingsten, zu Karneval und zum Tag der Deutschen Einheit die nettesten Glückwünsche von mindestens hundert Bekannten von uns. Dazu noch tausend Grüße von Unbekannten!«
»Wirklich? Warum schickt mir denn niemand eine Karte?«, werde ich plötzlich neidisch.
»Mein Gott, wie oft soll ich es dir denn noch sagen, du existierst nicht für diese Menschen. Für den Rest der Menschheit auch nicht. Du hast den Zug verpasst. Du hast nicht mal eine Adresse, wie sollen die Leute dich denn erreichen?«
»Bei Allah, ich krieg gleich die Krise! Jeder weiß doch, dass ich seit dreißig Jahren im Karnickelweg 7b wohne. Hast du dir etwa neuerdings ein Postfach in der Schweiz zugelegt?«
»Ossi, du Ewiggestriger, ohne ein Dutzend Internetadressen und eine schicke Hompäidsch mit Fläschanimation bist du heutzutage ein Nichts. Du hast dich nie für meine tolle DS L-Fläträit in meinem Küchen-PC interessiert! Du denkst ja immer noch, ein Brauser ist ein Kerl, der zu viel duscht. Kein Wunder, dass du keine Nachrichten bekommst. Von so einem Luser will kein Juser was wissen. Für die Netbevölkerung bist du ein hoffnungsloser Vagabund, ein erbärmlicher Obdachloser, ein Geist, ein Zombie!«
Noch am gleichen Tag habe ich mir natürlich drei I-Mäil -Adressen, zwei Hompäidschis und eine Fäysbukseite angeschafft.
Nach Jahren der völligen Funkstille herrscht in dieser Nacht in unserem Schlafzimmer richtiger Hochbetrieb, obwohl sich, wie gesagt, meine Frau weigert, ohne Höschen herumzulaufen, und ich ein Zombie bin.
Aber nun müssen Eminanim und ich schnell überlegen, wie weit ich die Mordgeschichte morgen meinem Meister erzähle, um ihn erneut auf die Folter zu spannen. Morgen ist Freitag, der 11. Juni. Wenn ich es schaffen sollte, einen weiteren Tag Gnadenfrist zu erreichen, wäre das ganze Wochenende in trockenen Tüchern. Am Samstag und Sonntag hätten wir dann genügend Zeit, um eine raffinierte Strategie für die dritte Juniwoche festzulegen.
Ohne eine Sekunde geschlafen zu haben, stehe ich um 5 Uhr auf und gehe unter die Dusche. Schlafen kann ich ja auch am Wochenende. Vorausgesetzt, mir gelingt es, mit diesem Trick den Meister noch mal einzulullen. Sonst kann ich den Rest meines Lebens nur noch schlafen!
Freitag, 11. Juni
Die Kollegen von der Frühschicht sind ziemlich überrascht, als sie mich in Unterhosen im Umkleideraum sehen.
»Das geht leider vielen so«, sagt der Kollege Detlef. »Ich kenne einen Polizisten, der ist, nachdem er gekündigt wurde, noch drei Jahre auf Streife gegangen und hat dabei dreiundzwanzig Diebe festgenommen.«
Mein lieber Kumpel Hans, der Staplerfahrer, sagt:
»Ich vermute mal, dass sich Osman aus Angst vor Repressalien noch nicht getraut hat, seiner Frau die bittere Wahrheit zu erzählen.«
»Leute, mir ist noch nicht gekündigt worden«, setze ich den ausufernden, wilden Spekulationen im stinkenden Umkleideraum ein Ende.
»Du bist nicht gekündigt worden?«, fragt Hans erstaunt und mit einem fröhlichen Lächeln im Gesicht.
»Nein, meine Kündigung hat sich der Meister als Höhepunkt der diesjährigen Rauswurf-Zeremonie für heute Mittag aufgehoben!«
Eine Stunde vor Feierabend »bittet« mich Herr Viehtreiber mittels Lautsprecher in sein Büro. Früher hat er mich immer »gerufen« – manchmal sogar »befohlen«!
Je schlechter die Nachricht, umso feiner der Ausdruck dafür.
Der Meister sitzt wieder hinter seinem überdimensionalen Schreibtisch, auf dem eine aufgeschlagene Akte, die Baupläne für die Hallenerweiterung und zwei noch ungeöffnete Briefe liegen. Und ganz oben, sozusagen direkt unter seiner Nase, thront meine Kündigung! Als ich sie sehe, schlägt mein Herz wie ein Presslufthammer!
Apropos Pressluft:
»Chef, das berühmte arbeitsscheue Z- 4-Gewinde an unserem Pressluftschrauber hat heute wieder drei Mal die Arbeit aufgekündigt. Wegen dem faulen Ding mussten wir dreißig Minuten Zwangspause einlegen. Die alten Akkuschrauber waren hundert Mal besser als dieser blöde, billige Pressluftkram.«
»Mist, dieses verfluchte Gewinde hat wieder die Arbeitaufgekündigt, sagst du?«, runzelt er die Stirn,
Weitere Kostenlose Bücher