Friesengold (German Edition)
1
Reinold Onken sah auf seine zweiundzwanzig Uhren, die alle auf die Sekunde genau gingen. Sammlerstücke, die meisten aus dem 18. und 19. Jahrhundert, mühsam von ihm zusammengetragen und restauriert. Nicht unbedingt wertvoll, zumindest nicht alle, aber unentbehrlich für ihn. Ihr Ticken war der Soundtrack seines Arbeitstags und ersparte ihm das grauenhafte Gewimmer und die einfältigen Melodien, die im Radio als Musik angepriesen wurden. Das Ticken beruhigte ihn, verhalf ihm zu jener Konzentration und ruhigen Hand, die einen guten Goldschmied auszeichneten. Selbst beim Spazierengehen oder vor dem Einschlafen glaubte er es manchmal noch zu hören, den einmaligen Rhythmus, das präzise Zusammenspiel von Räderwerk, Pendel, Ankerrad und Anker, den individuellen Klang der verschiedenen Gehäuse und Hölzer.
An diesem Abend aber zeigte das für ihn fast meditative Ticken kaum Wirkung. Die Finger seiner rechten Hand klopften einen ganz anderen Takt auf seiner Arbeitsplatte, setzten andere rhythmische Akzente, gehorchten nicht der Vorgabe der zweiundzwanzig mechanischen Werke. Vorschneider und Kugelpunzen hatte er achtlos zur Seite geschoben, obwohl er abends sonst gerne bis neun oder sogar zehn noch an einem Ohrring oder einer Brosche arbeitete.
Aber nicht an diesem Abend, nicht, wenn er Heyden erwartete. Vor sechs Jahren hatte ein Zufall sie zusammengeführt. Ein glücklicher Zufall, denn ohne Heyden hätte er seinen kleinen Laden wahrscheinlich längst aufgeben müssen. Ein verhängnisvoller Zufall, denn Heyden gefährdete seine Existenz und seine Freiheit. Gemocht hatte er ihn nie, und er versuchte von der ersten Begegnung an, den Kontakt auf das notwendige Minimum zu beschränken. Schon jetzt freute er sich auf das Gefühl, das sich einstellte, wenn Heyden seine Werkstatt wieder verlassen hatte.
Schon fast halb neun. Onken befragte eine Uhr nach der anderen, obwohl er wusste, wie sinnlos diese Überprüfung war. Heyden war sonst immer pünktlich gewesen. Er besaß keinen Stil, keinen Charakter, keine Kultur, keine Bildung, aber er war zuverlässig und pünktlich. Onkens Blick kehrte zum Schmiedetisch zurück, auf dem eine der hölzernen Weinkisten stand, in denen er seinen Bordeaux bezog. Statt drei teurer Flaschen lag schwarzer Molton in der Kiste. Er diente jedoch nur dazu, den eigentlichen Inhalt zu schützen, den er nur flüchtig in Augenschein genommen hatte. Er wollte ihn gar nicht sehen, geschweige denn anfassen. Nur loswerden wollte er ihn. Schnell loswerden. Immer mahnender massierten seine Finger die abgewetzte Arbeitsplatte.
Ein anderer Finger bearbeitete plötzlich draußen das Fenster. Dreimal traf das Gelenk die Scheibe. Das war das Zeichen. Heyden war endlich da. Erleichtert, aber mit spürbarem Herzklopfen, erhob sich Onken von seinem Drehstuhl und eilte mit wenigen Schritten zur Tür. Heyden war ein kleiner, aber kräftiger Mann um die vierzig. Er trug einen kurzen, schwarzen Mantel und eine Pudelmütze ohne Bommel. Sein durchaus markantes Gesicht war leicht gerötet, sein Atem roch nach Zwiebeln und Knoblauch. Hinter ihm wirbelten Schneeflocken durch die Dezembernacht.
»Dieser verdammte Schnee!«, fluchte der drahtige Mann und drängte an Onken vorbei in die warme Werkstatt. »Kein Schneepflug weit und breit! Fast zwei Stunden habe ich gebraucht. Doppelt so lang wie sonst.«
Onken schloss die Tür mit Schwung, um den Wind und mögliche Voyeure aus der Nachbarschaft abzuwehren.
»Wie kannst du hier arbeiten, Mann?«, fragte Heyden, obwohl er schon oft in der Goldschmiede gewesen war. »Mit den tausend Uhren?«
»Zweiundzwanzig Uhren.«
»Die machen aber Krach wie tausend Uhren. Wie hältst du das bloß aus?«
»Es ist meine Musik«, antwortete Onken und versuchte, Selbstbewusstsein zu demonstrieren. Trotz des Pochens in seinem Körper nahm er Blickkontakt auf und hielt an den dunklen Augen seines Gastes fest.
»Du tickst ja nicht ganz richtig! Also, wo ist das besagte Objekt? Ich muss gleich wieder zurück. Meine Kunden warten nicht gern.«
»Hier«, sagte Onken und wies mit der rechten Hand auf die französische Weinkiste.
Heyden entfaltete mit seinen schwarzen Lederhandschuhen vorsichtig das Moltonbündel. Für ein paar Sekunden versenkte er seinen Blick in die Kiste, bewegte den Kopf vor und zurück, berührte sanft, was Onken ihm angeboten und besorgt hatte. Als er wieder aufsah, nickte er dem Goldschmied beeindruckt zu.
»Du hast wieder einmal nicht zu viel
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