105 - Das indische Tuch
wäre.
»Die Frau würde jeden Mann zum Trinken bringen«, erklärte Tom mit Nachdruck. »Ich kann dem armen Kerl wirklich keinen Vorwurf machen; er muß ein schreckliches Leben haben! Die Frau ist sehr hübsch. Sie war Zofe, als Tilling sie kennenlernte. Natürlich laufen ihr die Männer nach. Man sagt auch, daß der Doktor –«
Er hielt inne.
»Meinen Sie Dr. Amersham?«
Tom schnitt ein Gesicht und machte sich wieder mit großem Eifer daran, den Schanktisch abzuwischen.
»Namen nenne ich nicht. Welchen Zweck hat es auch, all den Klatsch aufzuwärmen? Die Leute in Marks Thornton haben ein böses Mundwerk.«
Am Abend berichtete der Sergeant an Chefinspektor Tanner, und am nächsten Morgen machte er einen weiten Spaziergang, der ihn in die Nähe des Tillingschen Hauses führte.
In etwa hundert Meter Entfernung hielt er an, setzte sich auf einen niedrigen Zaun und rauchte seine Pfeife. Nachdem er ungefähr eine Stunde gewartet hatte, wurde seine Geduld belohnt. Eine Frau verließ das Haus, ging den Fußpfad entlang und trat dann auf die Straße hinaus.
Sie trug einen kleinen Korb und wollte allem Anschein nach ins Dorf gehen, um dort einzukaufen. Als sie an Ferraby vorbeikam, warf sie ihm einen schnellen Blick zu. Auf jeden Fall war sie sehr hübsch; sie kleidete sich gut und vorteilhaft, trug elegante Schuhe, seidene Strümpfe und einen entzückenden Hut. Ferraby bemerkte sogar eine kleine diamantenbesetzte Uhr an ihrem Handgelenk.
»Ach, entschuldigen Sie«, sprach er sie an. »Ist das große Gebäude dort drüben Marks Priory?«
Sie drehte sich sofort um, und Ferraby hatte den Eindruck, daß sie bestimmt erwartet hatte, von ihm angesprochen zu werden.
»Ja, das ist Marks Priory.«
Ihre Stimme klang etwas gewöhnlich, aber ihre Augen waren schön und leuchteten.
»Das ist aber nicht der Haupteingang«, sagte sie und wies mit dem Kopf auf das Tor. »Der liegt in der Nähe des Dorfes. Soll ich Ihnen den Weg zeigen?«
Sie sah ihn halb furchtsam von der Seite an.
»Das würde mir das größte Vergnügen machen.«
Er fühlte, daß er durch Höflichkeit hier viel erreichen konnte, ging neben ihr her und unterhielt sich zuvorkommend und freundlich mit ihr.
Ein- oder zweimal sah sie sich um, als ob sie erwartete, daß ihr jemand folgte. Beim zweiten mal wandte sich auch Ferraby um.
»Hat jemand gerufen?« fragte er.
»Ach nein«, erwiderte sie und zog die linke Schulter hoch. »Es ist nur wegen meinem Mann – ich dachte, es könnte ihm einfallen, hinter mir herzukommen. Kennen Sie das Schloß schon?«
»O ja, ich kenne dort zwei Leute.«
»Etwa Mylady?«
Sie schaute ihn argwöhnisch an, denn sie konnte sich eine Bekanntschaft zwischen einem Mann und einer Frau nicht anders vorstellen, als daß Liebe oder Zuneigung eine Rolle dabei spielten. So sehr Lady Lebanon von allen anderen Bewohnern im Dorf geachtet wurde, für Mrs. Tilling war sie auch nur eine Frau.
»Ja, ich habe Mylady getroffen.«
»Kennen Sie den jungen Lord auch?«
»Heute morgen sah ich ihn den Fahrweg entlanggehen.«
Sie warf ihm einen sonderbaren Blick zu. »Wenn Sie die Zufahrtsstraße kennen, warum fragen Sie dann nach dem Weg?«
Ferraby machte nun einen kühnen Schachzug.
»Sie wissen ganz genau, daß man einen Vorwand sucht, um eine Dame anzusprechen, die man gern kennenlernen möchte.«
Er hatte seinen Zweck vollkommen erreicht, denn sie lachte leise vor sich hin.
»Ich hatte mir das auch schon gedacht. Aber Sie bringen mich in schlechten Ruf. Die Leute reden zwar schon so viel über mich, daß es nicht mehr darauf ankommt. Kennen Sie eigentlich Dr. Amersham?« fragte sie gleichgültig, aber er merkte sofort die Absicht und ließ sich nicht täuschen.
»Ich habe ihn einmal flüchtig gesehen.«
»Er ist ein sehr liebenswürdiger Herr und außerordentlich klug. Ich bewundere solche Leute.«
Sie sprach schnell, und obwohl sie allgemeine Redensarten gebrauchte, klangen sie aus ihrem Mund doch originell.
»Klugheit und Verstand machen immer großen Eindruck auf mich«, fuhr sie fort. »Mir liegt mehr daran, daß ein Mann einen klugen Kopf hat, als daß er gut aussieht. Was Dr. Amersham nicht alles weiß … Ich bin immer wieder erstaunt darüber. Er ist auch viel im Ausland gewesen, und ein Arzt weiß sowieso mehr als andere Leute. Meinen Sie nicht auch, Mr. –?«
»Mein Name ist Ferraby. Ist Ihr Mann denn nicht auch klug?«
»Ach, der!« erwiderte sie verächtlich. »Er ist ganz nett, aber er fällt mir auf die
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