Das Maedchengrab
PROLOG: 1851
Noch war es dunkel. Der Mann und die Frau machten sich mit Pechfackeln auf den Weg – trotz der Panik, die ihre Herzen ergriff. Bald kroch das erste Licht durch den Wald, und sie fürchteten sich vor diesem Tag, der vielleicht der längste ihres Lebens sein würde. Sie liefen die Gartenwege zwischen den Häusern entlang zur Fahrstraße. Von dort, aus Richtung Blankenheim, hätte am Vorabend ihre Tochter zurückkommen sollen
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Sie begegneten keinem Menschen. Das machte ihnen Angst, und gleichzeitig waren sie dankbar, mit niemandem aus dem Dorf reden zu müssen. So hielten sie den Blick auf die Wege gerichtet, auf die Sträucher, auf die Stämme der Bäume
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Die beiden waren Köhler. Von ihrer harten Arbeit blieb ihnen nicht mehr als ein bescheidenes Auskommen. Gestern hatten sie bis tief in die Nacht bei ihrem Meiler im Wald ausharren müssen, denn das Holz unter den Schichten von Lehm und Laub wehrte sich und wollte nicht so recht verkohlen. Also errichteten sie den Meiler neu und konnten erst am frühen Morgen nach Hause gehen. Aber ihre Tochter trafen sie dort nicht an
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Sechs Kinder hatte die Köhlerin zur Welt gebracht, drei davon überlebten. Die beiden erwachsenen Söhne fanden Arbeit in den Minen in Westfalen, wo man die Kohle tief aus der Erde förderte. Ganz anders als Holzkohle war dies schwarze Gold: fest und glänzend und dafür gedacht, Eisen zum Schmelzen zu bringen, um daraus Maschinen zu bauen
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Mit fast vierzig Jahren gebar die Köhlersfrau ein Mädchen. Lisbeth kam viel zu früh auf die Welt und kämpfte sich ins Leben. Und nun, fünfzehn Jahre später, in dieser einen Nacht, lag sie nicht im häuslichen Bett. Dabei war sie immer verlässlich gewesen
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Die Erde auf dem Weg war ausgetrocknet
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»Hier«, sagte der Mann nur, seine Stimme klang hohl. Er beugte sich hinab, rot durchtränkter Sand blieb an seinen Fingerspitzen kleben
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Mit ihren Fackeln leuchteten sie die Büsche ab, schließlich knieten sie nieder. Das Feuer warf einen warmen Glanz auf Lisbeths bleiches Gesicht. Darunter klaffte halbrund die Wunde
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Der Friedhof
Das Korn war schon in die Scheunen eingefahren, da verabschiedete sich der Sommer mit stürmischen Tagen. Vieles deutete auf einen verfrühten Herbst hin. In dieser Nacht, es ging im Jahre 1856 bereits auf Ende September zu, überzogen fliehende Wolken den Himmel, nur manchmal blinkte ein Stern hervor. Der Morgen begann mit grauer Kälte, doch dann blinzelte durch den Nebel eine milde Sonne, die den Raureif rasch zum Schmelzen brachte.
Reetz hieß das Eifeldorf, in dem nicht einmal zweihundert Seelen lebten. Es lag südöstlich des Orts Blankenheim in einem Talkessel. In den benachbarten Wäldern entsprang ein Bach, der sich zwischen den Häusern entlangzog und später in die Ahr mündete. Die Mitte des Dorfes bildete die Pfarrkirche Sankt Magdalenen, umgeben von einem recht weitläufigen Friedhof. An der vom Kirchenportal abgewandten Seite stand ein alter Eichbaum. Durch den zeitig angebrochenen Herbst hatte er bereits den größten Teil seiner Blätter an den Wind verloren, der in dieser Ecke des Kirchhofs besonders heftig blies. Eine Schar von Raben ließ sich im nahezu kahlen Geäst der Eiche nieder. Die Vögel saßen dicht beieinander und hatten ihre Köpfe und Schnäbel in Richtung der Grabstätte ausgerichtet, die dem Baum am nächsten lag. Es sah aus, als würden die Raben das Grab betrachten und dabei lauschen, was von den umliegenden Häusern und Plätzen zu ihnen drang.
Laut tönte der Taktschlag der Drescher, die mit ihren Flegeln auf das ausgelegte Getreide einschlugen. Bald klang es wie ein rascher, sich überstürzender Wirbel, bald lang und müde nachschleppend, bald knatternd und dann wieder dumpf und hohl. Manchmal waren nur noch einzelne Schläge zu hören, und dann wieder fiel alles erneut ein in die wilde Melodie von da und dort.
Von dem Lärm ließen die Raben sich nicht stören. Sie hielten ihre Köpfe dem Grab zugewandt, als warteten sie auf etwas, das sich ereignen sollte.
Dort unten ruhte ein junges Mädchen. Noch am Vortag hatte seine Mutter in ihrem anhaltenden Schmerz bunte Astern auf den Grabhügel gepflanzt. Nun verfingen sich welke Eichenblätter, vom Wind getrieben, zwischen den Blumen. Am Kopfende des Grabes lag ein einfacher Sandstein, von der Natur geformt und nur wenig bearbeitet: Ein Steinmetz hatte den Namen des Mädchens und seine Geburtsund Sterbetage eingemeißelt. Die Mutter säuberte den Stein regelmäßig
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