155 - Kriminalfall Kaprun
Gletscherbahn und gedenken ihres Sohnes Matthäus. Tags zuvor hat Anwalt Stieldorf mit einem Opferanwalt eine Erklärung veröffentlicht. Darin heißt es: »Systemfehler, wie sie zur Katastrophe von Kaprun geführt haben, können in einem solchen Strafverfahren nicht aufgedeckt werden. Es hätte damals eine Untersuchungskommission gebraucht, um die Verantwortungen abseits des reinen Strafrechts zu analysieren.« Die Angehörigen hätten den gesamten Prozess als Affront wahrgenommen. »Wir hatten das Gefühl, nur zu stören. Es gab keine Informationen, es gab keine Transparenz. Es wurde nur gemauert.«
2010 ist die Wandergruppe größer als in den vergangenen Jahren. Neben den Stieldorfs sind wie gewohnt auch die Eltern der Freundevon Matthäus dabei. Der Tod ihrer Kinder, die heute vor zehn Jahren so tragisch wie zufällig in diesen Zug gestiegen sind, hat die Familien schicksalhaft zusammengeschweißt. Für die Zehn-Jahres-Gedenkfeier werden hunderte Menschen erwartet, Hinterbliebene, Rettungskräfte und Repräsentanten der Republik, Bundeskanzler Werner Faymann und Landeshauptfrau Gabi Burgstaller. Der Betriebsleiter und der Geschäftsführer der Gletscherbahn haben sich ebenso angekündigt, auch wenn es von den Hinterbliebenen stets kritisiert wird, wenn die in ihren Augen Verantwortlichen in Dienstkleidung an den Gedenkfeiern teilnehmen. Doch auch die Gletscherbahn hat Mitarbeiter bei der Katastrophe verloren und somit das Recht, ihrer zu gedenken.
2004 kommt es diesbezüglich zum Eklat. Johannes Stieldorf, der als Privatbeteiligtenvertreter dem Prozess beigewohnt hatte, platzt der Kragen, als er bei der ersten Gedenkfeier nach den überraschenden Freisprüchen für alle 16 Angeklagten den Gletscherbahn-Betriebsleiter kommen sieht. »Herr Betriebsleiter, verschwinden Sie«, ruft er ihm in mehr als zehn Metern Distanz zu, »wir wollen Sie hier nicht haben.« Alle Anwesenden starren auf den Gletscherbahn-Verantwortlichen, der die Schimpftirade mit versteinertem Gesicht über sich ergehen lassen muss.
»Sie werden für uns immer der Mörder unserer Kinder sein. Egal was das Gericht in diesem erbärmlichen Prozess festgestellt haben will.« Der Betriebsleiter hat keine Chance, sich zu verteidigen. An diesem Tag wurden die Fronten zwischen Hinterbliebenen und der Gletscherbahn-AG ein für alle Mal geklärt. Seither stehen Jahr für Jahr Hinterbliebene und Gletscherbahn-Mitarbeiter bei der Gedenkfeier zwar Seite an Seite, aber es trennen sie Welten.
20 vor 9 Uhr kommen die Wanderer bei der Talstation an. »Noch fahren die Bahnen«, sagt eine Frau zu ihrem Mann und zeigt auf die Gondeln, die in regelmäßigen Abständen den Berg hochziehen.
»Ich hoffe, sie schalten auch wirklich ab«, antwortet der Mann. Er kann sich noch gut erinnern, wie viel Überzeugungsarbeit es vorneun Jahren bedurfte, als die Hinterbliebenen von den Gletscherbahnen forderten, den Skibetrieb am ersten Jahrestag ausfallen zu lassen. Heute sollen um Punkt neun Uhr die Seilbahnen auf das Kitzsteinhorn für eine Stunde still stehen. Das hatten die Gletscherbahnen im Vorfeld versprochen. Die Gedenkfeier soll nicht vom laufenden Skibetrieb gestört werden, es soll ein Zeichen der Anteilnahme und des Mitgefühls sein.
Die Wanderer gehen mit ihren Kreuzen langsamen Schrittes hoch zum letzten Parkplatz, wo seit 2004 die Gedenkstätte steht, ein würdiger Ort der Erinnerung, für den sich die überwiegende Mehrheit der Hinterbliebenen ausgesprochen hat. Der schlichte, langgezogene Beton-Kubus hat 155 verschiedenfarbige Glaslamellen, für jedes Todesopfer eine. Die kleinen vertikalen Nischen haben die Angehörigen im Laufe der Jahre mit Fotos, Blumen und Erinnerungsstücken gestaltet. Im Glas sind sonst nur der Name und das Geburtsdatum des Toten vermerkt. Wenn die Sonne auf die Gedenkstätte trifft, was in dem engen Talschluss im Winter nur zur Mittagszeit der Fall ist, ergibt sich im Inneren ein faszinierendes Licht- und Farbenspiel. Am Westende der Gedenkstätte gibt eine Fensteröffnung den Blick auf die letzten sichtbaren Reste der Katastrophe frei, die Rampe hoch zum Berg und das Tunnelportal.
Auf dem Vorplatz der Gedenkstätte stehen Feuerwehrmänner, Rot-Kreuz-Sanitäter, Gletscherbahnmitarbeiter, viele Hinterbliebene und etwa ein Dutzend Journalisten. Die meisten Gesichter kommen den Wanderern bekannt vor, genauso wie die gedrückte Stimmung. Sie gehen schnurstracks an dem Menschenhaufen vorbei und verschwinden im Betonkubus, um dort an
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