155 - Kriminalfall Kaprun
Anschuldigungen. Er warf mir vor, den Freispruch aller Beschuldigten zugelassen und mit ihnen unter einer Decke gesteckt zu haben. Dann lief er aus dem Zimmer.
Als mein Mann, der selbst Mediziner ist, aufgebracht reagieren wollte, hielt ich ihn zurück. »Wie hättest du dich verhalten, wenn dein Sohn in Kaprun umgekommen wäre und das Gericht diejenigen freispricht, die seinen Tod auf dem Gewissen haben? Er kennt doch meinen Kampf gegen das Urteil gar nicht und sieht mich nur als Teil eines ungerechten Justizsystems, das bei der Kaprun-Katastrophe die Verantwortlichen gedeckt und die Wahrheit unterdrückt hat.«
Da tauchten die Bilder von Kaprun wieder auf, die ich eigentlich verdrängen wollte. So, als ob es gestern gewesen wäre, durchlebte ich nochmals den 11. November 2000, den Tag der schwersten Katastrophe in der Geschichte der Zweiten Republik. Wieder sah ich das Entsetzen der Eltern und Angehörigen, als sie langsam begriffen, dass ihre Kinder und Ehepartner nicht mehr zurückkommen werden. Dann wurden meine Erinnerungen an den Prozess übermächtig und wie im Film zogen die einzelnen Erlebnisse und Gerichtsszenen an mir vorbei. Schließlich durchlebte ich nochmalsdie Urteilsverkündung, die sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt hatte.
Nochmals erlebte ich den Moment, als die Hinterbliebenen fassungslos erkannten, dass der Richter soeben alle Angeklagten, die wegen des Todes ihrer Lieben vor Gericht gestanden waren, freigesprochen hatte. Nie zuvor hatte ich in einem Gerichtssaal Menschen so geschockt zusammenbrechen, verzweifelt weinen oder wütend hinauslaufen gesehen, wie nach diesem Urteil. Nie zuvor hatte ich ein Urteil erlebt, das mit so großer Verachtung kommentiert wurde, zunächst in Salzburg und dann weltweit.
Ich richtete mich im Bett auf, die Schulter schmerzte noch und der Kopf tat mir weh. »Ich verstehe diesen Mann. Er hat mir soeben klargemacht, dass Kaprun nicht abgeschlossen ist.«
Heute, mit dem Abstand von zweieinhalb Jahren, ist das Erlebnis im steirischen Krankenhaus immer noch präsent. Viele berührende Begebenheiten mit Opferangehörigen, die ich erlebt habe, bleiben wohl immer in meiner Erinnerung wach. Ebenso wie das unvorstellbare Grauen des unvorhersehbaren gewaltsamen Eingriffs in ihr Leben.
Erst der Arzt im steirischen Krankenhaus machte mir bewusst, dass durch mein sachbezogenes Denken und Auftreten bei dem einen oder anderen Opferangehörigen der Eindruck entstanden sein könnte, ich hätte mich zu wenig bis gar nicht engagiert, oder ich hätte den Verfahrensausgang sogar gebilligt. Beide Behauptungen sind unrichtig, aber ich fühle mich dafür verantwortlich, dass es eine solche Einschätzung überhaupt geben konnte. Ich möchte deshalb allen versichern, dass es nach dem rechtskräftigen Abschluss des Kaprun-Verfahrens noch weitere arbeitsintensive Verfahrensschritte gab, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich waren und auch nicht im Fokus der Opferangehörigen standen.
Die Einstellung des Verfahrens gegen die Gutachter und eine unterlassene Wiederaufnahme des Verfahrens haben aus meiner Sicht verhindert, dass der Kriminalfall Kaprun vollständig undwiderspruchsfrei aufgeklärt werden konnte, obwohl deutsche Behörden die österreichischen Gutachten gründlich widerlegt hatten. Darunter leiden viele bis heute, und sie werden es wohl noch in Zukunft tun.
Nach langem Zögern habe ich mich deshalb entschlossen, die beiden Autoren Hubertus Godeysen und Hannes Uhl bei ihren Recherchen zu unterstützen.
Salzburg, im Februar 2014
Dr. Eva Danninger-Soriat
Kapitel 1
Kaprun, Sommer 1994
»So ein Pfusch.« Der Hydraulikmonteur liegt auf dem Rücken und blickt durch ein kleines Loch auf die Beine der beiden Elektriker über ihm im Führerabteil. »Wie soll ich hier Leitungen verlegen?«
Von oben kommt nur ein Murmeln, das er nicht versteht.
So hat er sich den Tag nicht vorgestellt. Seit Wochen arbeitet Hans Unterweger in Kaprun am Unterbau der Gletscherbahn. Er verlegt mit zwei Kollegen Hydraulikölleitungen im Stahlgerippe. Vier voneinander unabhängige Systeme. Er ist mit seinem Werk fast fertig. Es fehlt nur noch der Oberbau der Zugkonstruktion, an dem in diesem Sommer, keine 200 Kilometer entfernt, in Oberweis im Salzkammergut gearbeitet wurde. Heute ist das Riesenpaket nach Kaprun gekommen, zwei 15 Meter lange Zugteile aus Stahl, Aluminium, Styropor und glasfaserverstärktem Kunststoff. Alles ist vorbereitet. Wie Topf und Deckel sollten Zugaufbau
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