155 - Kriminalfall Kaprun
»Den Lebenden schulden wir Respekt, den Toten nur die Wahrheit.« (Voltaire, 1785)
Prolog
»Wie schön kann das Leben auch ohne beruflichen Alltag sein. Endlich frei«, rief ich damals aus vollem Herzen, als ich bei strahlendem Sonnenschein entlang des Flüsschens Mur radelte.
An diesen Augenblick im Juni 2011 kann ich mich deshalb so gut erinnern, weil mir an diesem Tag meine neue Freiheit erst so richtig bewusst wurde. Zusammen mit meinem Mann und einem befreundeten Ehepaar waren wir von der Stickler-Hütte im Salzburger Lungau zu einer einwöchigen Fahrradtour durch die Steiermark gestartet. Es war mein erster Urlaub im neuen Leben und im noch ungewohnten Ruhestand.
Aus meinem Amt war ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge geschieden. Darüber hatte auch der offizielle Dank nicht hinwegtäuschen können, mit dem ich von meinen Vorgesetzten und Kollegen verabschiedet worden war. Sie sprachen von meinem großen Engagement und einer erfolgreichen 32-jährigen Arbeit für die Salzburger Justiz. Das inkludierte auch das Kaprun-Verfahren, das ab dem Tag der Katastrophe, am 11. November 2000, mein Leben bestimmte und das ich aus meiner Sicht nie als Erfolg sehen konnte, ganz im Gegenteil. Die gut informierte Salzburger Journalistin Sonja Wenger schrieb damals zu meiner Pensionierung: »Sie wurde auf perfide Art gemobbt, berichten wohlwollende Kollegen. Ihr wurde ein Maulkorb verpasst, ständig standen dienstrechtliche Vorwürfe im Raum, man unterstellte ihr sogar, sie würde die Kaprun-Prozesskritiker steuern.«
Ende Mai 2011 wurde ich mit einer kleinen Feier im Kollegenkreis verabschiedet. Jetzt stand ich nicht mehr einer Justiz gegenüber, die der ständig anwachsenden politischen Einflussnahme nur wenigWiderstand entgegengesetzte. Damals, als ich 1971 mit viel Idealismus in den Justizdienst eintrat, hatte ich noch ein anderes Umfeld vorgefunden, das der Rechtsprechung mehr Unabhängigkeit zubilligte. Heute leiden viele meiner Kollegen unter der in Österreich schon länger zu beobachtenden schleichenden Demontage der Gewaltenteilung, die nicht nur den Parlamentarismus schwächt, sondern zunehmend auch die Justiz erfasst. Besonders bedaure ich die Zunahme von parteipolitischem Karrieredenken bei manchen meiner Kollegen.
Unsere Vierergruppe radelte einen kleinen Hügel hoch, hielt an, und wir genossen den weiten Blick. Dieses schöne Bild nahm ich ganz in mich auf und verlor deshalb den Anschluss zu meinen Begleitern. Als ich bemerkte, dass die anderen schon weiter entfernt waren, trat ich in die Pedale. Doch mein Schwung war abwärts zu groß, der Lenker schlingerte. Ich rammte das Rad meines Vordermanns, stürzte und wurde bewusstlos. Als ich wieder erwachte, saß ich am Straßenrand, spürte Schmerzen in der Schulter und blickte auf Hautabschürfungen an den Armen. Mein Mann und das befreundete Ehepaar hatten sofort ein Taxi bestellt, auf das wir nun gemeinsam warteten. Als es kam, brachte es mich in ein nahe gelegenes Krankenhaus, wo ich sehr freundlich aufgenommen und untersucht wurde. Der diensthabende Arzt stellte einen Schlüsselbeinbruch und eine Gehirnerschütterung fest und verordnete eine stationäre Aufnahme.
Am nächsten Morgen wachte ich noch ganz benommen auf und freute mich, als ich meinen Mann und unsere Freunde am Krankenbett sitzen sah. Wir unterhielten uns gerade über das unerwartete Ende der Radtour, als die Zimmertür aufging und ein anderer Arzt hereinkam.
»Wir kennen uns. Kaprun«, sagte er.
Ich erinnerte mich sofort an ihn. Als Staatsanwältin war mir dieser Mann im Gerichtsverfahren mehrfach aufgefallen, der zusammen mit vielen anderen Opferangehörigen den Kaprun-Prozessfassungslos und ungläubig verfolgte und die Freisprüche mit hilflosem Entsetzen erlebte.
»Ich habe in Kaprun meinen Sohn verloren«, sagte er. »Er wollte Mediziner werden und in meine Fußstapfen treten. Nun ist er tot.«
Mit diesem Satz brachen die Emotionen der mehr als zehn Jahre angestauten Ohnmacht und Wut aus dem verzweifelten Vater heraus. Gemeinsam mit den anderen Hinterbliebenen hatte er nicht nur den Tod eines geliebten Menschen verkraften müssen, sondern auch ohnmächtig einen Gerichtsprozess erlebt, bei dem sich die Beschuldigten für sein Gefühl mit trickreichen Anwälten und fragwürdigen Gutachten aus ihrer Verantwortung gestohlen hatten und schließlich freigesprochen worden waren. In seiner verständlichen Wut auf die österreichische Justiz überhäufte er mich mit
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