1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
war kurz vor elf, und in der Registrierabteilung, in der Winston arbeitete, hatte man die Stühle aus den Gemeinschaftsräumen geholt und sie in der Mitte des Saales dem großen Televisor gegenüber aufgestellt, in Vorbereitung auf die Zwei-Minuten-Haß-Sendung . Winston nahm gerade seinen Platz in einer der Mittelreihen ein, als zwei Personen, die er vom Sehen kannte, mit denen er aber noch nie ein Wort gewechselt hatte, unerwartet in den Raum traten. Die eine davon war ein Mädchen, dem er oft auf den Gängen begegnet war. Er kannte ihren Namen nicht, wußte aber, daß sie in der Abteilung für Prosa-Literatur beschäftigt war. Vermutlich – denn er hatte sie manchmal mit ölverschmierten Händen und mit einem Schraubenschlüssel gesehen – hatte sie dort eine technische Funktion an einer der Romanschreibmaschinen. Sie war ein unternehmungslustig aussehendes Mädchen von etwa siebenundzwanzig Jahren, mit üppigem schwarzen Haar, sommersprossigem Gesicht und raschen, muskulösen Bewegungen. Eine schmale, scharlachrote Schärpe, das Abzeichen der Jugendliga gegen Sexualität , war mehrmals um die Taille ihres Trainingsanzuges gewunden, gerade eng genug, um die Rundung ihrer Hüften hervorzuheben. Winston hatte sie vom aller ersten Augenblick an nicht ausstehen können. Er wußte auch, weshalb. Es war wegen der Atmosphäre von Hockeyplatz, kaltem Baden, Gemeinschaftswanderung und allgemeiner Gesinnungstüchtigkeit, mit der sie sich zu umgeben wußte. Die Frauen, und vor allem die jungen, gaben immer die blind ergebenen Parteianhänger, die gedankenlosen Nachplapperer, die freiwilligen Spitzel ab, mit deren Hilfe man weniger Linientreue aushorchen konnte.
Aber dieses Mädchen im besonderen machte ihm den Eindruck, gefährlicher als die meisten zu sein. Einmal, als sie auf dem Gang aneinander vorbeigekommen waren, hatte sie ihn mit einem Seitenblick gestreift, der ihn zu durchbohren schien und der ihn für einen Augenblick mit blankem Entsetzen erfüllt hatte. Ihm war sogar der Gedanke durch den Kopf gegangen, sie könnte eine Agentin der Gedankenpolizei sein, was freilich sehr unwahrscheinlich war. Trotzdem fühlte er weiterhin, sooft sie in seine Nähe kam, eine merkwürdige Unsicherheit, die zu gleichen Teilen mit Angst und mit Feindschaft gemischt war.
Die andere Person war ein Mann namens O'Brien, ein Mitglied der Inneren Partei und Inhaber eines so wichtigen und der Allgemeinheit entrückten Postens, daß Winston nur eine undeutliche Vorstellung davon hatte. Ein kurzes Geflüster durchlief die um die Stühle herumstehende Gruppe, als sie den schwarzen Trainingsanzug eines Mitglieds der Inneren Partei herankommen sah. O'Brien war ein großer, grobschlächtiger Mann mit dickem Nacken und einem derben, humorvollen und brutalen Gesicht.
Ungeachtet seines wuchtigen Äußeren lag ein gewisser Charme in seiner Art, sich zu bewegen. Er hatte eine Manier, seine Brille auf der Nase zurechtzurücken, die seltsam entwaffnend und auf eine merkwürdige Weise zivilisiert wirkte. Es war eine Geste, die einen, wenn überhaupt noch jemand in solchen Begriffen gedacht hätte, an einen Edelmann aus dem achtzehnten Jahrhundert hätte erinnern können, der seinem Gegenüber die Schnupftabaksdose anbot. Winston hatte O'Brien vielleicht ein Dutzend Mal in etwa ebenso vielen Jahren gesehen. Er fühlte sich aufrichtig zu ihm hingezogen, und das nicht nur, weil ihn der Gegensatz zwischen O'Briens höflichen Manieren und seinem Preisboxertypus fesselte. Es beruhte vielmehr auf einem heimlich gehegten Glauben – oder vielleicht nur der Hoffnung –, daß O'Briens politische Strenggläubigkeit nicht vollkommen sei. Etwas in seinem Gesicht flößte unwiderstehlich diesen Gedanken ein. Und doch stand in diesem Gesicht eigentlich weniger mangelnde Strenggläubigkeit als einfach Intelligenz geschrieben. Jedenfalls sah er wie ein Mensch aus, mit dem man reden konnte, wenn man es fertig brachte, dem Televisor ein Schnippchen zu schlagen, und ihn allein zu fassen bekam. Winston hatte nie den geringsten Versuch gemacht, seine Vermutung auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen: praktisch gab es auch keine Möglichkeit dazu. O'Brien warf in diesem Augenblick einen Blick auf seine Armbanduhr, sah, daß es fast elf Uhr war, und beschloß offenbar, in der Abteilung Registratur zu bleiben, bis die Zwei-Minuten-Haß- Sendung zu Ende war. Er setzte sich auf einen Stuhl in derselben Reihe wie Winston, zwei Plätze von ihm entfernt. Eine kleine aschblonde
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