1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
oder zwei Jahre genau zu bestimmen.
Für wen, fragte er sich plötzlich, legte er dieses Tagebuch an? Für die Zukunft, für die Kommenden. Sein Denken kreiste einen Augenblick um das zweifelhafte Datum auf der ersten Seite und prallte dann jäh mit dem Wort Zwiegedanke aus der Neusprache zusammen. Zum erstenmal kam ihm die Größe seines Vorhabens zum Bewußtsein. Wie konnte man sich mit der Zukunft verständigen? Das war ihrer Natur nach unmöglich. Entweder ähnelte die Zukunft der Gegenwart, dann würde man ihm nicht Gehör schenken wollen; oder sie war anders geartet, dann war seine Darstellung bedeutungslos.
Eine Zeitlang saß er da und starrte töricht auf das Papier. Der Televisor hatte jetzt schmetternde Militärmusik angestimmt. Es war seltsam, daß er nicht nur die Gabe der Mitteilung verloren, sondern sogar vergessen zu haben schien, was er ursprünglich hatte sagen wollen. Seit Wochen hatte er sich auf diesen Augenblick vorbereitet, und es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß dazu noch etwas anderes nötig sein könnte als Mut. Die Niederschrift als solche hatte er für leicht gehalten. Brauchte er doch nichts weiter zu tun, als die endlosen hastigen Selbstgespräche zu Papier zu bringen, die ihm buchstäblich seit Jahren durch den Kopf geschossen waren. In diesem Augenblick jedoch war sogar das Selbstgespräch verstummt.
Außerdem hatte das Ekzem an seinen Krampfadern unerträglich zu jucken angefangen. Er wagte nicht, daran zu kratzen, denn dann entzündete es sich immer. Die Sekunden verstrichen. Nichts drang in sein Bewußtsein als die unbeschriebene Weiße des vor ihm liegenden Blattes, das Hautjucken über seinem Knöchel, die schmetternde Musik und eine leise Benebeltheit, die der Gin verursacht hatte.
Plötzlich begann er überstürzt zu schreiben, ohne recht zu wissen, was er zu Papier brachte. Seine kleine kindliche Handschrift bedeckte Zeile um Zeile des Blattes, wobei er bald auf die großen Anfangsbuchstaben und zum Schluß sogar auf die Interpunktion verzichtete:
»4. April 1984. Gestern Abend im Kino. Lauter Kriegsfilme. Ein sehr guter, über ein Schiff von Flüchtlingen, das irgendwo im Mittelmeer bombardiert wird. Zuschauer höchst belustigt durch eine Aufnahme von einem großen dicken Mann, den ein Helikopter verfolgt, zuerst sah man ihn sich durchs Wasser wälzen wie ein Nilpferd, dann sah man ihn durch das Zielfernrohr des Hubschraubers, dann war er ganz durchlöchert und das Meer rund um ihn färbte sich rosa, und er versank so plötzlich, als sei das Wasser durch die Löcher eingedrungen. Zuschauer brüllten vor lachen als er unterging. Dann sah man ein Rettungsboot voll kinder mit einem hubschrauber darüber, eine frau mittleren Alters, vielleicht eine Jüdin, saß mit einem etwa drei jähre alten knaben im bug. Kleiner junge brüllte vor angst und verbarg seinen kopf zwischen den brüsten als wollte er ganz in sie hineinkriechen und die frau legte die arme um ihn und tröstete ihn. obwohl sie selbst außer sich vor angst war bedeckte sie ihn so gut wie möglich als glaubte sie ihre arme könnten die kugeln von ihm abhalten, dann warf der hubschrauber eine 20-kilo-bombe zwischen sie schreckliches aufblitzen und das ganze schiff zersplitterte wie streichhölzer, dann gab es eine wundervolle aufnahme von einem kinderarm der hoch, hoch und immer höher hinauffliegt in die luft ein hubschrauber mit einer kamera vorn in der kanzel muß ihm nachgeflogen sein und es gab viel beifall aus den parteilogen aber eine frau unten wo die proles sitzen fing plötzlich an radau zu machen und zu schreien man hätte so was nicht vor kindern zeigen sollen es sei nicht recht vor kindern bis die polizei sie hinauswarf ich glaube nicht daß ihr etwas passierte niemand kümmert sich darum was die proles sagen typische prolesreaktion sie können nie –«
Winston hörte zu schreiben auf, auch weil er einen Schreibkrampf bekam. Er wußte nicht, was ihn veranlaßt hatte, diese Flut von Gestammel aus sich herauszuschleudern. Aber das merkwürdige war, daß ihm dabei eine vollständige Erinnerung so deutlich zum Bewußtsein gekommen war, daß es ihm fast so vorkam, als habe er sie niedergeschrieben. Nun erkannte er, daß dieser andere Vorfall an seinem plötzlichen Entschluß schuld war, nach Hause zu gehen und heute sein Tagebuch zu beginnen.
Dieser Vorfall hatte sich heute morgen im Ministerium zugetragen, wenn man von etwas so Nebelhaftem überhaupt sagen konnte, daß es sich zugetragen hat.
Es
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