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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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würden ihm eine Kugel durchs Hirn gejagt haben, ehe sie es wieder zu richtigem Denken zurückgeführt haben konnten. Der ketzerische Gedanke würde unbestraft, unbereut, für immer ungreifbar für sie bleiben.
    Sie hätten ein Loch in ihre eigene Vortrefflichkeit geschossen. Im Haß gegen sie sterben war gleichbedeutend mit Freiheit.
    Er schloß die Augen. Das war schwieriger, als sich einer geistigen Disziplin zu unterwerfen. Es erforderte, sich selbst zu erniedrigen, zu verstümmeln. Er mußte sich in den schlimmsten Schmutz stürzen. Was war das Schrecklichste, Ekelhafteste von allem? Er dachte an den Großen Bruder. Das riesige Gesicht (da er es 127
    George Orwell – 1984
    dauernd auf Plakaten sah, stellte er es sich immer einen Meter breit vor) mit seinem dicken schwarzen Schnurrbart und den Augen, die einem überallhin folgten, schien ihm ganz von selbst einzufallen. Was waren seine wahren Gefühle gegenüber dem Großen Bruder?
    Ein schweres Stiefelgetrampel war draußen auf dem Gang zu hören. Die Stahltüre schwang klirrend auf.
    O'Brien trat in die Zelle. Hinter ihm drein kamen der wachsgesichtige Offizier und die schwarzuniformierten Wachen.
    »Stehen Sie auf«, sagte O'Brien. »Kommen Sie her.«
    Winston stand vor ihm. O'Brien ergriff Winstons Schultern mit seinen kräftigen Händen und sah ihn scharf an.
    »Sie ließen es sich einfallen, mich täuschen zu wollen«, sagte er. »Das war dumm. Stehen Sie strammer.
    Schauen Sie mich an.«
    Er schwieg und fuhr in milderem Ton fort:
    »Sie bessern sich. Verstandesmäßig ist recht wenig an Ihnen auszusetzen. Nur gefühlsmäßig haben Sie keinen Fortschritt gemacht. Sagen Sie mir, Winston – und denken Sie daran, keine Lügen: Sie wissen, daß ich eine Lüge immer herausfinden kann –, sagen Sie, was sind Ihre wahren Gefühle gegenüber dem Großen Bruder?«
    »Ich hasse ihn.«
    »Sie hassen ihn. Schön. Dann ist für Sie die Zeit gekommen, den letzten Schritt zu tun. Sie müssen den Großen Bruder lieben. Es genügt nicht, ihm zu gehorchen: Sie müssen ihn lieben.«
    Er ließ Winston los, indem er ihm einen kleinen Stoß in Richtung zu den Wachleuten versetzte.
    »Zimmer 101«, sagte er.
    Fünftes Kapitel
    In jedem Stadium seiner Haft hatte er gewußt – oder zu wissen geglaubt –, wo in dem fensterlosen Gebäude er sich befand. Möglicherweise machten sich leichte Unterschiede im Luftdruck bemerkbar. Die Zellen, wo ihn die Wachen geprügelt hatten, lagen unter ebener Erde. Das Zimmer, in dem er von O'Brien verhört worden war, war hoch oben in Dachnähe. Dieser Raum nun befand sich viele Meter unter der Erde, so tief drunten wie möglich.
    Es war größer als die meisten Zimmer, in denen er gewesen war. Aber Winston nahm seine Umgebung kaum wahr. Er sah nur zwei kleine, gerade vor ihm stehende Tische, von denen jeder mit grünem Flanell bezogen war. Der eine stand nur einen oder zwei Meter von ihm entfernt, der andere weiter weg bei der Tür.
    Er war aufrecht sitzend so fest auf einen Stuhl angeschnallt, daß er nichts, nicht einmal den Kopf, bewegen konnte. Eine Art Schiene umklammerte von hinten seinen Kopf und zwang ihn, den Blick geradeaus vor sich hin gerichtet zu halten.
    Einen Augenblick war er allein, dann öffnete sich die Tür, und O'Brien kam herein.
    »Sie haben mich einmal gefragt«, sagte O'Brien, »was in Zimmer 101 wäre. Ich sagte, Sie wüßten die Antwort bereits. Jedermann weiß sie. Was einen in Zimmer 101 erwartet, ist das Schlimmste auf der Welt.«
    Wieder öffnete sich die Tür. Ein Wachmann kam herein und trug etwas aus Drahtgeflecht, eine Art Behälter oder Korb. Er stellte es auf den entferntesten Tisch. Wegen der Stellung, die O'Brien einnahm, konnte Winston nicht sehen, was es war.
    »Das Schlimmste auf der Welt«, sagte O'Brien, »ist individuell verschieden. Es kann lebendig begraben werden sein oder Tod durch Verbrennen, durch Ertränken, durch Aufpfählen, oder fünfzig andere Todesarten. Es gibt Fälle, bei denen es eine ganz nichtssagende, nicht einmal todbringende Sache ist.«
    Er war ein wenig beiseite getreten, so daß Winston den Gegenstand auf dem Tisch besser sehen konnte.
    Es war ein länglicher Drahtkäfig, mit oben einem Griff zum Tragen. An der Vorderseite war etwas befestigt, das wie eine Fechtmaske aussah, mit der Hohlseite nach außen. Obwohl es drei oder vier Meter von ihm entfernt stand, konnte er sehen, daß der Käfig der Länge nach in zwei Abteilungen geteilt war, und in jeder befand sich ein

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