1984
nach Unterhaltung oder Zerstreuung. Er wollte nur eben allein sein, nicht geschlagen oder verhört werden, genug zu essen haben und am ganzen Körper sauber sein – mehr wollte er nicht.
Allmählich verbrachte er weniger Zeit mit Schlafen, verspürte aber noch immer keine Lust, das Bett zu verlassen. Ihn verlangte nur danach, still dazuliegen und zu fühlen, wie die Kraft in seinen Körper zurückkehrte. Er befühlte sich da und dort und versuchte sich zu überzeugen, daß es keine Täuschung war, daß seine Haut sich straffte und seine Muskeln runder wurden. Endlich stand außer Zweifel fest, daß er an Gewicht zunahm; seine Oberschenkel waren jetzt deutlich dicker als seine Knie. Danach begann er, zuerst widerwillig, regelmäßig körperliche Übungen zu machen. Schon bald konnte er drei Kilometer laufen, wie er an seinen Schritten in der Zelle abmaß, und seine gebeugten Schultern wurden gerader. Er versuchte schwierigere Übungen und war erstaunt und gedemütigt bei der Entdeckung, was er alles nicht fertig brachte. Er konnte unterm Gehen keine anderen Bewegungen machen, konnte seinen Schemel nicht auf Armeslänge hinaushalten, konnte nicht auf einem Bein stehen, ohne seitlich umzukippen. Er hockte sich auf seine Fersen nieder und entdeckte, daß es ihm mit qualvollen Schmerzen in Schenkeln und Waden nur eben gelang, sich zu stehender Stellung aufzurichten. Er legte sich flach auf den Bauch und versuchte, sich mit aufgestützten Händen hochzustemmen. Es war hoffnungslos, er konnte sich keinen Zentimeter vom Boden hochheben. Aber nach ein paar weiteren Tagen – ein paar weiteren Mahlzeiten – gelang ihm auch dieses Kunststück. Es kam eine Zeit, als er es sechsmal hintereinander fertig brachte. Er begann richtig stolz zu werden auf seinen Körper und sich dem heimlichen Glauben hinzugeben, auch sein Gesicht werde wieder normal. Nur wenn er zufällig die Hand auf seinen kahlen Schädel legte, fiel ihm das zerschundene, zerstörte Gesicht ein, das ihn aus dem Spiegel angeblickt hatte.
Sein Geist wurde wacher. Er setzte sich auf die Pritsche, mit dem Rücken zur Wand und die Schreibtafel auf seine Knie gelegt, und machte sich behutsam daran, seinen Geist wieder zu üben.
Er hatte kapituliert, soviel stand fest. In Wahrheit war er, wie er nun erkannte, bereit gewesen zu kapitulieren, lange ehe er den Entschluß dazu gefaßt hatte. Von dem Augenblick an, als er sich in dem Ministerium für Liebe befand – ja sogar schon während der Minuten, als er und Julia hilflos dagestanden hatten, während ihnen die eiserne Stimme aus dem Televisor sagte, was sie tun sollten –, hatte er die Leichtfertigkeit, die Oberflächlichkeit seines Versuches, sich gegen die Macht der Partei aufzulehnen, voll erkannt. Er wußte jetzt, daß ihn die Gedankenpolizei sieben Jahre hindurch wie einen Käfer unter einem Vergrößerungsglas beobachtet hatte. Es gab keine körperliche Verrichtung, kein laut gesprochenes Wort, das sie nicht wahrgenommen hatten, keinen Gedankengang, den sie nicht im voraus gewußt hätten. Sogar das weiße Staubkörnchen auf dem Einband seines Tagebuches hatten sie sorgfältig wieder ersetzt. Sie hatten ihm Wachsplattenaufnahmen vorgespielt, ihm Fotografien gezeigt. Einige davon waren Fotografien von Julia und ihm. Ja, sogar . . . Er konnte nicht länger gegen die Partei ankämpfen. Außerdem war die Partei im Recht. Sie mußte es sein: denn wie konnte der unsterbliche kollektive Geist irren? Mit welchem äußeren Maßstab konnte man seine Werte nachprüfen? Das Urteil des gesunden Menschenverstandes stand statistisch fest. Es war lediglich eine Frage, so denken zu lernen, wie sie dachten. Nur –!
Der Bleistift fühlte sich plump und sperrig zwischen seinen Fingern an. Er begann die Gedanken niederzuschreiben, die ihm durch den Kopf gingen. Zuerst schrieb er in großen unbeholfenen Anfangsbuchstaben:
125
George Orwell – 1984
F R E I H E I T I S T S K L A V E R E I
Dann, fast ohne Innehalten, schrieb er darunter:
ZWE I UND ZW EI IS T F Ü NF
Jetzt aber schaltete sich eine Art Hemmung ein. Sein Geist schien so, als scheue er vor etwas zurück, außerstande, sich zu sammeln. Er wußte, daß er wußte, was als nächstes kam; aber im Augenblick konnte er nicht darauf kommen. Als er dann darauf kam, was es sein mußte, war es nur auf Grund bewußter Überlegung; es fiel ihm nicht von selber ein. Er schrieb:
G O T T I S T M A C H T
Er nahm jetzt alles richtig hin. Die Vergangenheit war veränderlich. Die
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