Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
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JEDEN TAG GURTE ich mir meine Waffen um und gehe auf Patrouille durch diese schäbige Stadt.
Ich mache das schon so lange, dass es meinen Körper geformt hat – wie eine Hand, die zu lange Eimer in der Kälte getragen hat.
Im Winter ist es am schlimmsten, wenn Träume mich heimsuchen, ich mich hochkämpfe und im Dunkeln nach meinen Stiefeln taste. Sommer ist besser. Dann scheint der Ort fast trunken vor Licht, und für ein, zwei Wochen schlittert die Zeit an einem vorbei. Frühjahr und Herbst sind nicht der Rede wert. Hier oben hat das Wetter Zähne, zehn Monate im Jahr.
Jetzt ist es immer still. Die Stadt ist leerer als der Himmel. Aber früher gab es so schlimme Zeiten, dass ich für einen sauberen Mord zwischen zwei mündigen Bürgern beinahe dankbar war.
Irgendwann im Laufe der Jahre habe ich wohl das Strahlen meiner Augen eingebüßt.
Die glücklichen Jahre waren vor langer Zeit, in
meiner Jugend. Das Jahr lief wie eine gut geölte Uhr. Wir setzten die Pflanzen aus den Treibhäusern in die Erde, sobald sie weich genug zum Graben war. Im Juni saßen wir auf der Veranda und enthülsten Ackerbohnen, bis uns die Schultern wehtaten. Dann gab es Kartoffeln zu trocknen, Kohl zu ernten, Fleisch zu pökeln und im Herbst Pilze und Beeren zu sammeln. Und wenn sich die Kälte um uns zusammenzog, ging ich mit meinem Pa auf die Jagd und zum Eisfischen. Wir brieten Omul und Elchfleisch auf Treibholzfeuern am See. Wir ritten die Winterstraßen hoch, um Fellkleidung und Karibus von den Tungusen zu kaufen.
Wir hatten eine Schule. Wir hatten eine Bücherei, wo Miss Grenadine Bücher stempelte und uns im Winter am Holzofen vorlas.
Ich erinnere mich noch, wie ich in den letzten milden Tagen vor dem Frost vom Unterricht nach Hause ging und die erleuchteten Fenster wie Bernstein glitzerten und wir die fetten Kastanien von den Bäumen plünderten und Charlos’ helles Lachen durch den Nebel klang, als mein Ast die Zweige traf – zack! zack! – und um uns die Kastanien ins Gras prasselten.
Das alte Versammlungshaus, in dem wir beteten, steht noch immer am anderen Ende der Stadt. Oft saßen wir dort still beisammen und lauschten auf das Knistern und Knacken der Scheite.
Das letzte Mal ging ich vor fünf Jahren dorthin. Ich war seit langer Zeit nicht mehr in diesem Haus gewesen, und als Kind hatte ich jede Minute, die man mich dort zu sitzen zwang, gehasst. Es roch dort noch so wie damals: gutes, abgelagertes Holz, weiße Tünche, Kiefernnadeln. Aber die Bänke hatte man alle zu Feuerholz verarbeitet, und die Fenster waren eingeschlagen. Und in einer der Ecken spürte ich, wie etwas unter meiner Stiefelspitze zerquetscht wurde. Es stellte sich als ein paar Finger heraus. Von ihrem Besitzer fehlte jede Spur.
Ich lebe in dem Haus, in dem ich aufwuchs, mit dem Brunnen im Hof und der Werkstatt meines Vaters, die das niedrige Gebäude neben dem Seitentor einnimmt, fast so, wie es in meiner Kindheit war.
Im schönsten Raum, der für Sonntage und Besucher und Weihnachten reserviert war, steht das Pianola meiner Mutter und darauf ein Metronom und ihr Hochzeitsbild. Und ein großes, vergoldetes M aus Holz, das mein Vater zu meiner Geburt gemacht hatte.
Als erstes Kind meiner Eltern bekam ich die volle Wucht ihres neuen religiösen Eifers zu spüren. Daher der Name: Makepeace. Charlo kam zwei Jahre später zur Welt, Anna im Jahr darauf.
Makepeace. Könnt ihr euch den Spott vorstellen,
den ich in der Schule abbekam? Und den Zorn meiner Eltern, als ich meine Fäuste gebrauchte, um mich zu verteidigen?
Aber so lernte ich, das Kämpfen zu lieben.
Ich lasse das Pianola ab und an laufen – es gibt eine Kiste mit Rollen, die noch funktionieren –, aber der Klang ist ziemlich dahin. Und mein Gehör ist nicht gut genug, um das Ding nachzustimmen, und nicht schlecht genug, dass es mir egal wäre.
Als Feuerholz wäre es fast wertvoller für mich. In manchen Wintern habe ich es sehnsüchtig angesehen – wenn ich wieder mit einem Stapel Decken dasaß, Zähneklappern im Schädel, der Schnee bis zur Dachrinne aufgetürmt – und mir gedacht: Makepeace, verdammt, schnapp dir ’ne Axt, dann hast du’s wieder warm! Dass ich es nie gemacht habe, ist wohl eine Frage der Ehre oder so etwas. Woher kriege ich je wieder ein Pianola? Und nur weil ich das Ding nicht stimmen kann und niemanden kenne, der es kann, heißt das noch lange nicht, dass diese Person nicht existiert – oder eines Tages geboren wird. Lesen oder Pianolaspielen gehören
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