Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
Vom Netzwerk:
verwickeln, ein Thema, über das er fesselnd und voll Sachkenntnis plaudern konnte.
    Winston drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um dem forschenden Blick der großen dunklen Augen zu entgehen.
    »Es war recht interessant, das Hängen«, sagte Syme in Erinnerung daran. »Ich finde, es beeinträchtigt die Sache sehr, wenn man ihnen die Füße zusammenbindet. Ich sehe sie gerne strampeln. Und vor allem muß am Schluß die Zunge herausblecken, blau – ganz zart hellblau. Das ist eine Einzelheit, die mir gefällt.«
    »Der nächste, bitte!« rief der weißbeschürzte Proles mit der Schöpfkelle.
    Winston und Syme schoben ihre Tabletts über den Ausgabetisch. Jedem wurde mit einem raschen Schwung seine Einheitsmahlzeit zugeteilt: ein Eßgeschirr voll eines rosagrauen Eintopfes, ein Stück Brot, ein Würfel Käse, ein Becher Victory-Kaffee ohne Milch und eine Sacharin-Tablette.
    »Dort unter dem Televisor ist ein Tisch frei«, sagte Syme. »Nehmen wir uns im Vorbeigehen einen Gin mit.«
    Der Gin wurde in henkellosen Porzellanbechern ausgegeben. Sie zwängten sich durch den gedrängt vollen Raum und stellten ihre Schüsseln auf die Metallplatte des Tisches, auf dessen einer Ecke jemand eine Pfütze von Eintopf hinterlassen hatte, einen schmutzig-nassen Brei, der wie Erbrochenes aussah. Winston hob seinen Ginbecher in die Höhe, hielt einen Augenblick inne, um Mut zu sammeln, und stürzte das ölig schmeckende Zeug hinunter. Nachdem er die Tränen niedergekämpft hatte, die ihm in die Augen gestiegen waren, merkte er plötzlich, daß er hungrig war. Er begann gehäufte Löffel des Eintopf-Gerichtes 23
    George Orwell – 1984
    herunterzuschlingen, in dessen schlüpfriger Masse auch Würfel eines schwammigen, rosafarbenen Zeugs auftauchten, das vermutlich ein Kunstfleischprodukt war. Keiner der beiden sprach ein Wort, bis sie ihr Eßgeschirr geleert hatten. An dem Tisch links von Winston, ein wenig hinter ihm, sprach jemand rasch und pausenlos – ein unangenehmes Geplapper, das wie das Quaken einer Ente durch das allgemeine Getöse des Raumes drang.
    »Wie geht's mit dem Wörterbuch vorwärts?« fragte Winston mit erhobener Stimme, um den Lärm zu übertönen.
    »Nur langsam«, sagte Syme. »Ich bin jetzt bei den Adjektiven. Es ist sehr interessant.«
    Bei der Erwähnung der Neusprache war er sofort lebhaft geworden. Er schob seine Schüssel beiseite, ergriff mit der einen seiner zarten Hände sein Stück Brot und mit der ändern den Käse; dabei beugte er sich über den Tisch, um nicht schreien zu müssen.
    »Die Elfte Ausgabe ist die endgültige Fassung«, erklärte er. »Wir geben der Neusprache ihren letzten Schliff – wir geben ihr die Form, die sie haben wird, wenn niemand mehr anders spricht. Wenn wir damit fertig sind, werden Leute wie du die Sprache ganz von neuem erlernen müssen. Du nimmst wahrscheinlich an, neue Worte zu erfinden. Ganz im Gegenteil! Wir merzen jeden Tag Worte aus – massenhaft, zu Hunderten. Wir vereinfachen die Sprache auf ihr nacktes Gerüst. Die Elfte Ausgabe wird kein einziges Wort mehr enthalten, das vor dem Jahr 2050 entbehrlich wird.«
    Er biß hungrig in sein Brot, und nachdem er zwei Bissen geschluckt hatte, fuhr er mit pedantischer Leidenschaft zu sprechen fort. Sein mageres, dunkles Gesicht hatte sich belebt, seine Augen hatten ihren spöttischen Ausdruck verloren und waren fast träumerisch geworden.
    »Es ist eine herrliche Sache, dieses Ausmerzen von Worten. Natürlich besteht der große Leerlauf hauptsächlich bei den Zeit- und Eigenschaftswörtern, aber es gibt auch Hunderte von Hauptwörtern, die ebenso gut abgeschafft werden können. Es handelt sich nicht nur um die sinnverwandten Worte, sondern auch um Worte, die den jeweils entgegengesetzten Begriff wiedergeben. Welche Berechtigung besteht schließlich für ein Wort, das nichts weiter als das Gegenteil eines anderen Wortes ist? Jedes Wort enthält seinen Gegensatz in sich. Zum Beispiel ›gut‹: Wenn du ein Wort wie ›gut‹ hast, wozu brauchst du dann noch ein Wort wie ›schlecht‹?
    ›Ungut‹ erfüllt den Zweck genauso gut, ja sogar noch besser, denn es ist das haargenaue Gegenteil des anderen, was man bei ›schlecht‹ nicht wissen kann. Wenn du wiederum eine stärkere Abart von ›gut‹ willst, worin besteht der Sinn einer ganzen Reihe von undeutlichen, unnötigen Worten wie ›vorzüglich‹,
    ›hervorragend‹ oder wie sie alle heißen mögen? ›Plusgut‹ drückt das Gewünschte aus; oder

Weitere Kostenlose Bücher