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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Sorte Schuhe anhatte – sie sagte, sie habe noch nie zuvor jemanden solche Schuhe tragen sehen. Daher bestand die Wahrscheinlichkeit, daß es sich um einen Ausländer handelte. Allerhand Köpfchen für einen siebenjährigen Dreikäsehoch, was?«
    »Was wurde aus dem Mann?« fragte Winston.
    »Ach, das kann ich Ihnen natürlich nicht sagen. Aber ich wäre durchaus nicht verwundert, wenn –«
    Parsons machte die Bewegung des Gewehranlegens und deutete mit einem Zungenschnalzen den Schuß an.
    »Gut!« sagte Syme zerstreut, ohne von seinem Papier aufzublicken.
    »Natürlich können wir uns kein Risiko leisten«, stimmte Winston pflichtschuldig bei.
    »Schließlich haben wir nun einmal Krieg«, meinte Parsons.
    Wie zur Bestätigung seiner Worte erscholl ein Fanfarenstoß aus dem gerade über ihren Köpfen angebrachten Televisor. Diesmal war es jedoch nicht die Verkündigung eines militärischen Sieges, sondern lediglich eine Meldung des Ministeriums für Überfluß.
    »Genossen!« rief eine eifrige jugendliche Stimme. »Achtung, Genossen! Wir haben herrliche Nachrichten für euch. Wir haben die Erzeugungsschlacht gewonnen! Die jetzt abgeschlossenen amtlichen Berichte über die Produktion aller Kategorien von Gebrauchsgütern zeigen, daß der Lebensstandard im Vergleich zum vergangenen Jahr sich um nicht weniger als zwanzig Prozent erhöht hat. In ganz Ozeanien fanden heute morgen spontane Demonstrationen statt, bei denen die Arbeiter aus den Fabriken und Büros herausmarschierten und mit Fahnen durch die Straßen zogen, um dem Großen Bruder ihre Dankbarkeit für das neue, glückliche Leben zum Ausdruck zu bringen, mit dem uns seine weise Führung beschenkt hat. Hier folgen einige der endgültigen Zahlen: Lebensmittel –«
    Der Satz »unser neues, glückliches Leben« kehrte mehrmals wieder. Es war in letzter Zeit ein Lieblingsausdruck des Ministeriums für Überfluß geworden. Parsons, dessen Aufmerksamkeit durch den Fanfarenstoß geweckt worden war, saß in einem Zustand von gähnendem Ernst und belehrter Langeweile da. Er vermochte den Zahlen nicht zu folgen, war sich aber bewußt, daß sie irgendwie einen Grund zur Befriedigung boten. Er hatte eine große, verschmutzte Pfeife hervorgeholt, die bereits bis zur Hälfte mit verkohltem Tabak angefüllt war. Mit der Tabakration von hundert Gramm in der Woche konnte man seine Pfeife selten bis zum Rand füllen. Winston rauchte eine Victory-Zigarette, die er sorgfältig waagrecht hielt.
    Die neue Zuteilung wurde erst morgen fällig, und er hatte nur noch vier Zigaretten übrig. Für den Augenblick hatte er seine Ohren den entfernteren Geräuschen verschlossen und lauschte dem Redeschwall, der aus dem Televisor drang. Es stellte sich heraus, daß sogar Demonstrationen stattgefunden hatten, um dem Großen Bruder für die Erhöhung der Schokoladeration auf zwanzig Gramm in der Woche zu danken.
    Dabei war erst gestern, so überlegte Winston, bekanntgegeben worden, daß die Ration auf zwanzig Gramm die Woche herabgesetzt würde. War es möglich, daß die Leute das nach nur vierundzwanzig Stunden schlucken würden? Ja, sie schluckten es. Parsons schluckte es mühelos, mit der Dummheit eines Tieres. Das augenlose Geschöpf am Nebentisch schluckte es fanatisch, leidenschaftlich, mit der blindwütigen Sucht, jeden ausfindig zu machen, zu denunzieren und zu vaporisieren, der behaupten wollte, vergangene Woche habe die Ration dreißig Gramm betragen. Auch Syme schluckte es – allerdings auf eine komplizierte Art, bei der das Zwiedenken hineinspielte. Stand er demnach allein da, war er der einzige, der ein Gedächtnis hatte?
    Immer noch tönten die frei erfundenen Statistiken aus dem Televisor. Im Vergleich zum vergangenen Jahr gab es mehr zu essen, mehr Kleidung, mehr Häuser, mehr Möbel, mehr Kochtöpfe, mehr Heizmaterial, mehr Schiffe, mehr Flugzeuge, mehr Bücher, mehr Neugeborene – mehr von allem außer Krankheit, Verbrechen und Wahnsinn. Jahr um Jahr, von einer Minute zur anderen erlebte alles einen rasenden Aufstieg. Wie vorher Syme, hatte Winston jetzt seinen Löffel ergriffen und manschte in den farblosen Speiseresten auf dem Tisch herum, wobei er einen langen Streifen zu einem Muster auszog. Voll Ingrimm dachte er über die physische Beschaffenheit des Lebens nach. War es schon immer so gewesen? Hatte das Essen immer so geschmeckt? Er blickte sich in der Kantine um. Ein niedriger, gedrängt voller Raum, dessen Wände durch die Berührung unzähliger Leiber schmutzig

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