1984
Kapitel
Winston lehnte sich zurück und starrte gegen die Decke. Dann ergriff er den Federhalter und schrieb in sein Tagebuch:
Es war vor drei Jahren. An einem dunklen Abend, in einer engen Seitenstraße in der Nähe eines der großen Bahnhöfe. Sie stand unweit von einem Torweg unter einer Straßenlaterne, die nur spärliches Licht gab. Sie hatte ein junges, sehr stark geschminktes Gesicht. Eigentlich war es die Gesichtsbemalung mit ihrer maskenhaften Weiße, was mich anzog, und die brennend roten Lippen.
Die Frauen von der Partei schminken sich nie. Es war niemand sonst auf der Straße, und kein Televisor. Sie sagte zwei Dollar. Ich –
Es war im Augenblick zu schwierig weiter zuschreiben. Er preßte die Finger auf die geschlossenen Augen und versuchte, das Bild wieder heraufzubeschwören, das ihm in seiner Erinnerung vorschwebte. Er verspürte ein fast unüberwindliches Verlangen, mit vollem Stimmaufwand einen Schwall unflätiger Worte hinauszuschreien. Oder mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, den Tisch umzuwerfen und das Tintenfaß aus dem Fenster zu schleudern – irgend etwas Gewaltsames, Lautes oder Schmerzhaftes zu tun, um die quälende Erinnerung auszulöschen.
29
George Orwell – 1984
Der schlimmste Feind, mit dem man es zu tun hatte, überlegte er, waren die eigenen Nerven. Jeden Augenblick konnte die innere Spannung sich in einem äußeren Symptom verraten. Ihm fiel ein Mann ein, an dem er vor ein paar Wochen auf der Straße vorbeigegangen war: ein ganz alltäglich aussehender Mann, ein Parteimitglied von fünfunddreißig oder vierzig Jahren, ziemlich groß und mager, eine Aktentasche unterm Arm. Sie waren ein paar Meter voneinander entfernt gewesen, als die linke Gesichtshälfte des Mannes plötzlich in krampfhafte Zuckungen geriet. Das gleiche hatte sich noch einmal gerade in dem Augenblick wiederholt, als sie aneinander vorbeigekommen waren: es war nur ein kurzes Zittern, ein Zucken, so schnell wie das Klicken eines Fotoapparats, aber offenbar chronisch. Er erinnerte sich, daß er damals gedacht hatte: Der arme Teufel ist geliefert! Und das Erschreckende daran war, daß es sich höchstwahrscheinlich um einen unbewußten Vorgang handelte. Die allergrößte Gefahr war, im Schlaf zu sprechen. Soviel er wußte, gab es keine Möglichkeit, sich dagegen irgendwie zu schützen.
Er schöpfte Atem und fuhr fort zu schreiben:
Ich ging mit ihr durch den Torweg und über einen Hinterhof in eine im Erdgeschoß gelegene Küche. An der Wand stand ein Bett und auf dem Tisch eine sehr tief herabgeschraubte Lampe. Sie . . .
Er war nervös. Er hätte am liebsten ausspucken mögen. Zugleich mit der Frau in der Küche dachte er an Katherine, seine Frau. Winston war verheiratet – oder jedenfalls verheiratet gewesen; vermutlich war er es noch, denn soviel ihm bekannt war, war seine Frau nicht gestorben. Ihm kam es vor, als atme er wieder den warmen, stickigen Geruch in der ebenerdigen Küche, einen Geruch aus Ungeziefer, schmutziger Wäsche und miserablem billigen Parfüm, aber dennoch verlockend, denn keine Frau von der Partei benützte jemals Parfüm, auch hätte man sich das überhaupt nicht vorstellen können. Nur die Proles benützten Parfüm. In seiner Vorstellung war dieser Geruch untrennbar mit Unzucht verbunden.
Als er mit dieser Frau gegangen war, hatte das seinen ersten Fehltritt seit ungefähr zwei Jahren bedeutet.
Der Umgang mit Prostituierten war natürlich verboten, aber es war eine der Vorschriften, die man gelegentlich zu übertreten wagen konnte. Es war gefährlich, aber es war keine Angelegenheit auf Leben und Tod. Mit einer Prostituierten erwischt zu werden, konnte bis zu fünf Jahren Zwangsarbeitslager bedeuten; aber nicht mehr, wenn man keinen weiteren Verstoß begangen hatte. Und das war recht einfach, wenn man nur vermeiden konnte, in flagranti ertappt zu werden. In den ärmeren Vierteln wimmelte es von Frauen, die bereit waren, sich zu verkaufen. Manche waren sogar für eine Flasche Gin zu haben, der nicht für die Proles bestimmt war. Stillschweigend neigte die Partei sogar dazu, die Prostitution zu fördern, als ein Ventil für Instinkte, die sich nicht völlig unterdrücken ließen. Die bloße Ausschweifung wurde nicht wichtig genommen, solange sie flüchtig und freudlos blieb und nur die Frauen der unterdrückten und verachteten Klasse daran teilnahmen. Ein unverzeihliches Verbrechen dagegen war die Unzucht zwischen Parteimitgliedern. Doch obwohl dies auch zu den Verbrechen
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