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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Bruchteil einer Sekunde, währenddessen sich ihre Augen begegneten, und in diesem winzigen Zeitraum wußte Winston – ja, er wußte es! –, daß O'Brien das gleiche dachte wie er. Eine unmißverständliche Botschaft war zwischen ihnen ausgetauscht worden. Es war, als hätten ihre beiden Denkwelten sich aufgetan und als strömten durch ihre Augen die Gedanken von dem einen in den anderen über. »Ich halte es mit dir«, schien O'Brien zu ihm zu sagen. »Ich weiß genau, was in dir vorgeht. Ich kenne deine ganze Verachtung, deinen Haß, deinen Abscheu. Aber hab keine Angst, ich stehe auf deiner Seite!« – Dann war der Blitz des Einverständnisses erloschen, und O'Briens Gesicht war ebenso undurchdringlich wie das aller anderen.
    Das war alles gewesen, und er war schon nicht mehr sicher, ob es sich wirklich zugetragen hatte.
    Derartige Zwischenfälle hatten nie eine Fortsetzung. Sie hielten lediglich den Glauben – oder die Hoffnung
    – in ihm lebendig, daß es außer ihm noch andere Feinde der Partei gab. Vielleicht waren die Gerüchte von großen Untergrundverschwörungen doch wahr – vielleicht existierte »Die Brüderschaft« wirklich! Trotz der endlosen Verhaftungen, Geständnisse und Hinrichtungen konnte man nie sicher sein, daß »Die Brüderschaft« nicht lediglich eine sagenhafte Erfindung war. An manchen Tagen glaubte er daran, an anderen nicht. Es gab keinen greifbaren Beweis, nur flüchtige Andeutungen, die alles oder nichts bedeuten konnten: Bruchstücke erlauschter Gespräche, verwischte Aufschriften an Abortwänden – oder einmal, wenn zwei Freunde sich trafen, eine kleine Bewegung der Hände, die einem Verständigungszeichen ähnlich sah.
    Alles war nur eine Mutmaßung: sehr wahrscheinlich hatte er sich das alles nur eingebildet. Er war an seinen Arbeitsplatz zurückgegangen, ohne O'Brien noch einmal anzusehen. Der Gedanke, ihre kurze Fühlungnahme weiter zu verfolgen, war ihm kaum durch den Sinn gegangen. Es wäre unvorstellbar gefährlich gewesen, selbst wenn er gewußt hätte, wie er das machen sollte. Eine oder zwei Sekunden lang hatten sie einen zweideutigen Blick getauscht – und damit Schluß. Aber sogar das war ein denkwürdiger Augenblick in der abgeschlossenen Einsamkeit, in der man zu leben gezwungen war.
    Winston rappelte sich hoch und setzte sich gerade. Er mußte rülpsen. Der Gin rumorte in seinem Magen.
    9
    George Orwell – 1984
    Sein Blick richtete sich wieder auf das Blatt. Er entdeckte, daß er, während er in hilflosem Grübeln dagesessen, gleichzeitig automatisch weitergeschrieben hatte. Und zwar war es nicht mehr die gleiche verkrampfte Handschrift von vorhin. Seine Feder war beschwingt über das glatte Papier geglitten und hatte in großer klarer Blockschrift hingemalt:
    N IED E R M IT D EM G RO SSE N B RU D E R
    N IED E R M IT D EM G RO SSE N B RU D E R
    N IED E R M IT D EM G RO SSE N B RU D E R
    immer wieder, fast über eine halbe Seite hinweg.
    Unwillkürlich durchzuckte ihn ein furchtbarer Schrecken. Das war im Grunde töricht, denn das Niederschreiben gerade dieser Worte war nicht gefährlicher als der erste Schritt, ein Tagebuch anzulegen; und doch fühlte er sich einen Augenblick lang versucht, die beschriebenen Seiten herauszureißen und die ganze Sache aufzugeben.
    Er tat es jedoch nicht, weil er wußte, daß es zwecklos war. Ob er nieder mit dem Großen Bruder hinschrieb oder nicht, machte keinen Unterschied. Ob er mit dem Tagebuch fortfuhr oder nicht, machte keinen Unterschied. Die Gedankenpolizei würde ihn trotzdem erwischen. Er hatte – auch wenn er nie die Feder angesetzt hätte – das Kapitalverbrechen begangen, das alle anderen in sich einschloß. Gedankenverbrechen nannten sie es. Gedankenverbrechen konnte man auf die Dauer nicht geheim halten. Man konnte vielleicht eine Weile, oder sogar Jahre lang, schlaue Winkelzüge machen, aber früher oder später kamen sie einem doch darauf.
    Immer war es nachts – die Verhaftungen fanden unabänderlich nachts statt. Das plötzliche Hochfahren aus dem Schlaf, die derbe Hand, die einen an der Schulter packte, die Lichter, die einem die Augen blendeten, der Kreis harter Gesichter um das Bett. In der überragenden Mehrzahl der Fälle fand keine Gerichtsverhandlung statt, kein Bericht meldete die Verhaftung. Die Menschen verschwanden einfach, immer mitten in der Nacht. Der Name wurde aus den Listen gestrichen, jede Aufzeichnung von allem, was einer je getan hatte, wurde vernichtet; daß man jemals gelebt hatte,

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