1984
»Sie sind enttäuscht, weil sie nicht ausgehen und sich das Hängen ansehen können, daher kommt es wohl. Ich bin zu beschäftigt, um mit ihnen hinauszugehen, und Tom kommt nicht rechtzeitig von der Arbeit heim.«
»Warum können wir nicht gehen und das Hängen sehen?« brüllte der Junge mit seiner kräftigen Stimme.
»Hängen sehen! Hängen sehen!« leierte das Mädchen, das noch immer herumsprang.
Einige eurasische Gefangene, denen Kriegsverbrechen zur Last gelegt wurden, sollten an diesem Abend im Park gehängt werden, fiel Winston ein. Dergleichen fand etwa einmal im Monat statt und war ein beliebtes Schauspiel. Kinder verlangten immer, dazu mitgenommen zu werden. Er verabschiedete sich von Frau Parsons und ging zur Tür. Er war aber noch keine sechs Stufen die Treppe hinuntergestiegen, als ihn etwas mit furchtbarer Wucht höchst schmerzhaft in den Nacken traf. Es war, als sei ihm ein rotglühender Draht ins Fleisch gestoßen worden. Er fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie Frau Parsons ihren Sohn durch die Wohnungstür hineinzerrte, während der Junge eine Schleuder einsteckte.
»Goldstein!« schrie ihm der Junge nach, während sich die Tür hinter ihm schloß. Was Winston am betroffensten machte, war der Ausdruck hilfloser Angst im Antlitz der Frau.
Als er in seine Wohnung zurückgekehrt war, ging er rasch hinter den Televisor und setzte sich wieder an den Tisch. Er rieb seinen immer noch schmerzenden Nacken. Die Musik aus dem Televisor war verstummt.
Statt dessen verlas eine forsche militärische Stimme mit einer Art brutalen Behagens eine Beschreibung von der Bewaffnung der neuen Schwimmenden Festung, die soeben zwischen Island und den Faröer-Inseln vor Anker gegangen war.
Mit diesen Kindern, dachte Winston, mußte die arme Frau ein Höllenleben haben. Noch ein, zwei Jahre, und sie würden sie Tag und Nacht nach Anzeichen nachlassender Parteitreue bespitzeln. Fast alle Kinder waren heutzutage schrecklich. Am schlimmsten von allem war jedoch, daß sie mit Hilfe von solchen Organisationen wie den Spähern systematisch zu unbezähmbaren kleinen Wilden erzogen wurden. Und doch weckte das in ihnen keineswegs die Neigung, sich gegen die Parteidisziplin aufzulehnen. Die Marschlieder, die Umzüge, die Fahnen, die Wanderungen, das Exerzieren mit Holzgewehren, das Brüllen von Schlagworten, die Verehrung des Großen Bruders – alles das war für sie ein herrliches Spiel. Ihre ganze Wildheit wurde nach außen gelenkt, gegen die Staatsfeinde, gegen Ausländer, Verräter, Saboteure, Gedankenverbrecher. Es war für Leute über dreißig nahezu normal, vor ihren eigenen Kindern Angst zu haben. Und das mit gutem Grund, denn es verging kaum eine Woche, in der nicht in der Times ein Bericht stand, wie ein lauschender kleiner Angeber – »Kinderheld« lautete die gewöhnlich gebrauchte Bezeichnung
– eine kompromittierende Bemerkung mit angehört und seine Eltern bei der Gedankenpolizei angezeigt hatte.
Der durch das Geschoß der Schleuder verursachte Schmerz war vergangen. Winston griff unentschlossen 12
George Orwell – 1984
zum Federhalter und fragte sich, ob ihm wohl noch etwas für sein Tagebuch einfallen würde. Plötzlich dachte er von neuem an O'Brien.
Vor Jahren – wie lange war es her? Es mußte vor sieben Jahren gewesen sein – hatte er geträumt, er gehe durch ein stockdunkles Zimmer. Und jemand, der seitlich von ihm saß, hatte, als er vorüberkam, gesagt:
»Wir wollen uns wiedersehen, wo keine Dunkelheit herrscht.« Er sagte das ganz ruhig, fast nebenbei – als eine Feststellung, kein Befehl. Er war weitergegangen, ohne stehen zubleiben. Das seltsame war, daß damals, im Traum, die Worte keinen großen Eindruck auf ihn gemacht hatten. Erst später und allmählich hatten sie anscheinend eine Bedeutung angenommen. Er konnte sich jetzt nicht mehr erinnern, ob es vor oder nach dem Traum war, daß er O'Brien zum erstenmal gesehen hatte; so wenig wie er sich entsann, wann er zum erstenmal jene Stimme als die O'Briens identifiziert hatte. Jedenfalls war es für ihn jetzt die Stimme O'Briens. O'Brien hatte aus der Dunkelheit zu ihm gesprochen.
Winston hatte nie genau herausfinden können – auch nach dem flüchtigen zweideutigen Blick von heute morgen konnte er dessen nicht sicher sein –, ob O'Brien ein Freund oder ein Feind war. Aber das schien nicht einmal viel auszumachen. Zwischen ihnen herrschte ein Einverständnis, das wichtiger war als Zuneigung oder Parteizugehörigkeit.
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