62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
vergolten wird, wie Christus sagt. – Wenn es wahr wäre!“
Er trat abermals an das Fenster. Sie folgte ihm, legte ihm die Hand wieder auf den Arm und sagte:
„Werden Sie zu Seidelmann gehen?“
Da gab er ihr die Hand und antwortete:
„Sie sind so opferfreudig, daß ich mich nicht beschämen lassen kann. Es ist ein saurer Gang, aber ich werde ihn doch tun.“
„Wann?“
„Jetzt gleich. Das wird am besten sein.“
„Tun Sie das. Der liebe Gott wird das Herz des reichen Mannes lenken, daß er Ihren Wunsch erhört!“
Wilhelmi griff zur Mütze und ging. Der ältere Seidelmann befand sich in seinem Bureau. Er machte ein erwartungsvolles Gesicht, als er den Musterzeichner eintreten sah.
„Bringen Sie die neuen Muster?“ fragte er.
„Noch nicht. Sie werden erst morgen früh fertig.“
Sofort verfinsterte sich das Gesicht des Kaufmannes.
„So haben Sie wohl eine Frage in bezug auf die Zeichnung?“
„Eine Frage? Ja. Aber in anderer Beziehung.“
„Reden Sie!“
„Heute ist mein ältestes Kind gestorben, Herr Seidelmann –“
„Seien Sie froh! Das ist ein wahres Glück für Sie!“
Es war Wilhelmi, als ob er den Sprecher beohrfeigen müsse; aber er beherrschte sich und sagte:
„Sie haben vielleicht recht. Und doch kommt mir dieser Todesfall höchst ungelegen.“
„Wieso?“
„Weil mit ihm Geldausgaben verknüpft sind, denen ich gerade heute noch nicht gewachsen bin!“
„Ah so!“ dehnte Seidelmann, indem er seine Stirn in sehr bedenkliche Falten zog.
„Die Frau liegt mit den anderen Kindern schwer an den Blattern darnieder; man will leben und braucht teure Medizin. Morgen früh bringe ich die Muster. Heute aber brauche ich auf das nötigste zwei Gulden. Würden Sie mir diese vorschießen, Herr Seidelmann?“
„Nein“, lautete es kurz und scharf.
„Sie sind Ihnen doch sicher!“
„Sie sind mir bereits zwei schuldig.“
„Oh, Sie sind reich. Ihnen ist es ganz gleich, ob Sie mir morgen zwei Gulden oder vier abzuziehen haben!“
„Nein, das ist mir ganz und gar nicht gleich! Da irren Sie sich! Ein Geschäftsmann muß ganz streng nach gewissen Grundsätzen handeln. Weicht er davon ab, so hat er es stets zu bereuen.“
„Ich bin mir nicht bewußt, Ihnen je einmal Grund zur Reue gegeben zu haben.“
„O doch, mein Bester!“
„Wann wäre das gewesen?“
„Jetzt, heute! Sie wissen, daß es mein Grundsatz ist, niemals Gehaltszulage zu geben, und ebensowenig pflege ich Vorschüsse zu leisten. Ich habe mich verleiten lassen, bei Ihnen eine Ausnahme zu machen, und – sehen Sie wohl – sofort tritt die Reue ein! Ich gab Ihnen zwei Gulden, und anstatt mich zu bezahlen, kommen Sie und verlangen einen zweiten Vorschuß. Das ist sehr auffällig, mein Lieber! Wenn ich das einreißen ließe, kämen Sie gar nicht aus den Schulden heraus. Sie sehen ein, daß ich um Ihres eigenen Wohles Ihnen die Bitte abschlagen muß.“
„Aber, Herr Seidelmann! Die Leiche im Haus, die Kranken! Sodann diese Kälte! Ich brauche den kleinen Betrag, bei Gott, zur allerhöchsten Not!“
„Das verfängt bei mir nicht! Ich kenne das! Ihr Leute befindet euch stets in der allergrößten Not, und dabei denkt ihr unausgesetzt, daß wir nur da sind, euch fort und fort aus dieser Not zu befreien. Ich kann euch nur den sehr gut gemeinten Rat geben, eure Einkünfte besser zusammenzuhalten.“
„Zehn Gulden in zwei Wochen! Nennen Sie das Einkünfte?“
„Wie sonst? Fünf Gulden wöchentlich ist für Sie genug!“
Der Musterzeichner mußte seine ganze Selbstbeherrschung zusammennehmen, um scheinbar ruhig zu bleiben. Er trat einen Schritt zurück und fragte:
„Es ist also Ihr unerschütterlicher Entschluß, mir den erbetenen Vorschuß zu verweigern?“
„Ja.“
„Nun wohl, so schreite ich zu einer zweiten Bitte.“
„Noch eine! Sie wird doch nicht etwa mit der ersten Ähnlichkeit haben?“
„Leider doch!“
Und indem er weitersprach, vermochte er nicht, das Zittern seiner Stimme, welches eine Folge seiner gewaltsam unterdrückten Aufregung war, ganz zu verbergen.
„Herr Seidelmann, Sie kennen mich. Es kann mir kein Mensch etwas Unrechtes nachsagen –“
„Bis jetzt noch nicht!“ fiel ihm der Kaufmann in die Rede.
„Ich glaube, daß es auch in Zukunft so bleiben wird. Ich habe stets ein reges Ehrgefühl besessen, und war ich einmal in Not, so ließ ich es keinem Menschen merken. Ich habe noch niemand angebettelt. Mein ganzes Wesen sträubt sich dagegen; heute aber ist mir das Wasser
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