Ab ins Bett!
darunter und richtet unsäglichen Schaden an. In den 70ern gab es eine Kindersendung für Taubstumme, wo sich die Bildsequenzen wie in einer Art Roulette über den Fernsehschirm drehten. Wenn man dieses Bilderroulette im Kopf spielt, nicht das für Taubstumme, sondern für Liebes-Blinde, dann kommt plötzlich der Moment, wo man die Bremse nicht mehr findet — das Rad dreht sich wie wild, flickflick-flickflickflick und - stop! Wenn es endlich zum Stillstand kommt, dann auf dem Gesicht der Frau, die wirklich deine sexuelle Herzdame ist (neunundneunzigmal von hundert nicht die, mit der du gerade zusammen bist - und in der explodierenden Ekstase bist du mit dieser Schuld konfrontiert). Seit unserer ersten Begegnung war jenes Gesicht für mich immer das von Alice: der Frau meiner Träume.
Sie heirateten letztes Frühjahr im Standesamt von Marylebone. Eine Weile war die Rede davon, daß sie sich in der Synagoge trauen lassen wollten, aber weil Alice ein Mischling ist und keine Faser jüdisch, bekam der Rabbi Panik, und sie mußten ohne Gottes Segen auskommen. Mit Hochzeiten habe ich immer ein kleines Problem (mit der Zeremonie, meine ich — allein die tiefe Genugtuung der Verwandten in den Bänken, daß die jungen Leute endlich Vernunft angenommen haben! —, aber auch die Institution Ehe ist ja allem Augenschein nach nicht ohne Tücken), doch mit dieser Hochzeit hatte ich komischerweise ein großes Problem. Zuerst gaben sie sich ihr Jawort, was schon genug Salz auf meine Wunden war. Und als wäre das elende »dich lieben und ehren, bis der Tod uns scheidet« nicht weiß Gott genug, ging es natürlich weiter mit »so es jemanden gibt, der mit Grund Einspruch erhebt, daß diese beiden rechtmäßig miteinander vermählt werden, so erhebe er seine Stimme jetzt oder schweige für immerdar«; und an dieser Stelle, von der ja bekannt ist, daß jeder in der Kirche oder im Standesamt oder sonstwo den Drang verspürt aufzuschreien, biß ich mir so fest auf die Zunge, daß sich mein Mund mit Blut füllte. Mein einziger Trost an der ganzen Sache war, daß Alice, als Frau der 90er, ihren Mädchennamen - Friedricks - beibehielt, was ich in schwachen Momenten als Beweis dafür nehme, daß sie sich nicht hundertprozentig festgelegt hat.
Ehe ich am Abend zu meinem Schmerzenshaus aufbrach, verwendete ich viel Zeit darauf, attraktiv auszusehen, ohne den Eindruck zu erwecken, als hätte ich mir sonderliche Mühe gegeben. Die meiste Zeit nahm die Prozedur in Anspruch, mein Haar in genau die Form zu bringen, wie es vorher war: eine leicht zerwühlte Mähne, die mir in einer Mischung aus Verwegenheit und Verletzlichkeit in die Stirn fällt. Doch das Bild, das mir aus dem Spiegel entgegenguckt, ist eine Mischung aus Idiot und Lackaffe. Die Locken stehen mir vom Kopf ab wie der Moustache eines Zirkus-Goliaths. Bei dem Versuch, den Schaden zu beheben, trage ich viel zuviel Gel auf, so daß ich dann mit Wasser operieren muß, damit mir das Ganze nicht wie eine geplatzte schwarze Duschkappe am Kopf klebt. Ich verfluche Ben, daß er mir nicht schon gestern Bescheid gesagt hat, da hätte ich mich gleich rasieren können und bis heute abend einen attraktiven, aber ausgesprochen unbeabsichtigten Stoppelbart gehabt. Nicht daß mir an einer »Ich habe mich nicht angestrengt, aber, hey, seh ich nicht trotzdem umwerfend aus?«-Vibe läge, darum geht es nicht. Es ist nur so: Obwohl ich danach lechze, daß Alice wenigstens einen winzigen, kleinen Hauch von Verlangen nach mir spürt, verzweifelter danach dürste als ein in der Wüste verlorener Mann, so bin ich noch verzweifelter bemüht, daß sie nicht das kleinste bißchen von meiner Obsession merkt. Das ist das in die Wunde meiner Schlaflosigkeit gestreute Salz, wenn ich Nacht für Nacht daliege und mir den auf der Zimmerdecke immer wieder von vorn laufenden Katastrophenfilm angucke, der folgen würde. Die Beziehung zu Ben, meinem Bruder, meine Verbindungstür zur heilen Welt, würde in die Brüche gehen. Aber schlimmer, viel schlimmer, ich könnte Alice nie wieder unbefangen begegnen. Jetzt kann ich sie sehen, und es schmerzt, es zerreißt mir das Herz, aber wenigstens gibt es keine Mauer zwischen uns, keinen Zaun von Beklommenheit, kein unausgesprochenes: Vielleicht wäre es besser, du gehst. Ich weine, aber ich weine nach hinten, die Tränen laufen die Innenseite meines Gesichts hinab, wo ich sicher sein kann, sie sieht sie nicht. Wenn ich mit ihr zusammen bin, ist meine Liebe geknebelt und
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